14.05.2024

Mit breiten Bündnissen und Engagement Demokratie vor Ort stärken: Dokumentation des digitalen Thementages „Von der Protestwelle zur Bewegung“

Was braucht eine Demokratiebewegung und wie kann diese nachhaltig bestehen? Einblicke in unseren Thementag vom 6. Mai 2024

Die demokratische Zivilgesellschaft zeigt sich: Seit Jahresbeginn konnten wir in Deutschland die größten Massendemonstrationen seit Jahren beobachten. Deutschlandweit protestierten Millionen Menschen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus – sei es in den Metropolen oder im ländlichen Raum, im Osten oder im Westen.

Foto: Christian Lue via unsplash.com

Akteuren der Demokratie- und der Engagementförderung, wie zum Beispiel den Freiwilligenagenturen, ist dabei Eindrucksvolles gelungen: Die Mitte der Gesellschaft positioniert sich stärker als zuvor für Demokratie und Vielfalt und wird sich der Bedeutung ihres Engagements bewusst. Seit langem wurden Demokratie und ihre Institutionen als die schützenswerte Grundordnung unserer Gesellschaft nicht mehr so deutlich verteidigt.

Rund 45 Teilnehmer:innen und diverse Expert:innen aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft zogen beim digitalen Thementag „Von der Protestwelle zur Bewegung: Wie wir für Demokratie, Vielfalt und Zusammenhalt einstehen“ am 6. Mai 2024 eine erste Zwischenbilanz der zurückliegenden Proteste.

Gemeinsam mit Moderator Alexander Thamm stellten sie sich außerdem die Fragen: Wie kann es weitergehen? Was sind die nächsten Schritte bis zu den anstehenden Wahlen? Und wie gelingt es auch über den Herbst hinaus eine starke Bewegung für Demokratie, Vielfalt und Zusammenhalt zu bilden?

Zum Start des Thementags verdeutlichte Birgit Bursee, Vorsitzende der bagfa und Leiterin der Freiwilligenagentur Magdeburg e.V., in ihrer Begrüßung die wichtige Rolle von Freiwilligenagenturen bei der Stärkung der Demokratie: Als Knotenpunkte des Engagements wirken sie in ihren Netzwerken gegen Rassismus und Hass, etwa bei lokalen Aktionstagen. Die Themen Demokratie, Vielfalt und Zusammenhalt bräuchten viel Kraft, die Freiwilligenagenturen seien hier gefordert, Sichtbarkeit zu zeigen und als lokale Verstärkerinnen für Demokratie zu fungieren.

Birgit Bursee | Foto: Jesko Döring

In unserem Überblick „Engagement und Freiwilligenagenturen stärken Demokratie“ finden sich zahlreiche Beispiele aus Freiwilligenagenturen und Leseempfehlungen zum Themenbereich Demokratie(-Förderung).

Mit dem Momentum an der Seite: Jeanette Gusko über die Gefahren durch Rechtsextremismus und wie wir ihnen begegnen können

Die demokratische Zivilgesellschaft, die sich derzeit zeige, macht Hoffnung für den weiteren Verlauf unserer Demokratie. Mit dieser Zuversicht startete die CORRECTIV-Geschäftsführerin Jeannette Gusko in das Gespräch beim digitalen Thementag. Die Proteste der zurückliegenden Woche zeigten, dass sich etwas in unserer Gesellschaft regt, hierbei werde viel Engagement deutlich. Dieses Engagement langfristig zu halten, ist laut Gusko vor allem die Aufgabe von Politik und Medien, aber auch der organisierten Zivilgesellschaft. Es sei eine herausfordernde Zeit, gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass die großen Bemühungen der Zivilgesellschaft Wirkung zeigen und viele Menschenbereit waren, sich an den Protesten zu beteiligen.

Jeanette Gusko | Foto: CORRECTIV

Die Recherchen zum „Geheimplan gegen Deutschland“ (https://correctiv.org/themen/geheimplan-recherche/) hätten nicht in erster Linie zum Ziel gehabt, für große Proteste zu mobilisieren, berichtet Jeanette Gusko. Vielmehr sei es darum gegangen, etwas Wirkmächtiges aufzuzeigen: Konkret die Verbindungen zwischen rechtsextremen und einzelnen Akteuren aus der Wirtschaft. Die Recherchen und die anschließenden Proteste hätten die Menschen emotional berührt und verdeutlicht, dass sie gebraucht werden.

Die Zivilgesellschaft müsse jetzt reflektieren und aufzeigen, worauf es in diesem Wahljahr, aber auch darüber hinaus, ankommt: Rote Linien in der Zusammenarbeit mit rechtsextremen Akteuren einfordern, Botschaften gegen Hass und Hetze senden und Solidarität zeigen. Gusko betont, wie wichtig es in unserem derzeitigen gesellschaftlichen Klima sei, eine positive Grundstimmung zu schaffen. Das kann gelingen, indem die individuellen Transformationskompetenzen der Menschen als wichtiges Wissen und Erfahrung genutzt werden. Vor allem Menschen mit Wendebiografien hätten Erfahrung mit Umbrüchen, die für unsere gesellschaftlichen Herausforderungen wertvoll seien.

Wie können wir uns gegen die rechtsextreme Bedrohungslage wappnen? Jeanette Gusko plädiert dafür, dass wir unsere „Engagement-, Tolerenz- und Diskussionsmuskeln stärker trainieren“ sollten. Diskussionen müssen geführt werden, und jede:r Einzelne:r sollte gegen Hassbotschaften und Desinformation Stellung beziehen. Denn schon eine einzelne Person könne die Stimmung im Raum ändern und mit der Vision einer wünschenswerten Zukunft Position beziehen. Auch das sei demokratiestärkendes Engagement, welches strukturelle Veränderungen hervorbringen könne, so die CORRECTIV-Geschäftsführerin. Dieses beginne vor Ort und bei jeder einzelnen Person.

Im Gespräch mit Deutschlandfunk Nova geht Jeanette Gusko genauer auf das Konzept der Transformationskompetenzen ein, die auch prägendes Thema ihres Buches „Aufbrechen“ sind (Infos hier).

Auf Sicht fahren: Was sind die nächsten Schritte bis Herbst? Reflexion in Kleingruppen

Im Anschluss an das Gespräch mit Jeanette Gusko reflektierten die Teilnehmenden die Eindrücke in Kleingruppen. Was haben die zurückliegenden Proteste bei den Kolleg:innen vor Ort bewegt? Was sind die nächsten Schritte der engagementfördernden Einrichtungen bis zum Herbst?

In den Diskussionen wurde deutlich, dass lokale Netzwerke und Bündnisse zur Stärkung von Demokratie oder zur Organisation von Demonstrationen an Bedeutung, Sichtbarkeit und Relevanz gewonnen haben. Viele der teilnehmenden Organisationen sind vor Ort involviert oder unterstützen flexibel neue Initiativen. Dabei steht auch die Frage um Raum, wie Hürden im Engagement abgebaut und mehr Menschen erreicht werden können. Bis zu den anstehenden Wahlen sind Demokratietage, Kampagnen in lokalen oder überregionalen Netzwerken oder langfristige Engagementförderung im Bereich Demokratiestärkung geplant.

Die Ergebnisse der ersten Reflexionsrunde sind hier als Download verfügbar.

Vor Ort bestmöglich unterstützen: Veit Hannemann über die Arbeit des „Hand in Hand“-Bündnisses

300.000 Menschen versammelten sich laut Organisator:innen am 3. Februar 2024 in Berlin, um für unsere Demokratie einzustehen. Aufgerufen hatte das Bündnis „Hand in Hand“, dessen Aufruf rund 2.000 Organisationen unterzeichneten – darunter auch die bagfa. Beim digitalen Thementag sprach Veit Hannemann von Hand in Hand über das Bündnis und dessen Arbeit.

Allerdings handele es sich dabei nicht um ein Bündnis im klassischen Sinne, denn dahinter verbirgt sich laut Hannemann kein Zusammenschluss von Organisationen, sondern eine Initiative von Einzelpersonen. Nach der Großdemonstration in Berlin sei erstmal eine „Verschnaufpause“ nötig gewesen. Nun konzentriere man sich auf die Stärkung von Bündnissen vor Ort. Die rund 50 Aktiven von Hand in Hand unterstützen die bereits vorhandenen Strukturen: Mit Materialien, telefonischer Beratung oder – wenn gewünscht – mit Redebeiträgen bei lokalen Demonstrationen. Hannemann legte den Teilnehmenden außerdem konkrete Kampagnen ans Herz.

Und was rät Hannemann den Freiwilligenagenturen? Diese sollten auch proaktiv auf lokale Demokratiebündnisse zugehen. Handfeste Unterstützung des Engagements sei ebenso gefragt wie fachliche Beratung in Sachen Freiwilligenmanagement, nicht zuletzt zu der Frage, wie sich neue Freiwillige gut in die Arbeit von Bündnissen einbinden lassen.

Die Präsentation von Veit Hannemann mit weiterführenden Infos zu geplanten Kampagnen und Terminen ist hier als Download verfügbar. Infos zum Aktionstag „Bleib Stabil“ finden sich hier.

Demokratie, Partizipation und Engagement mitgestalten: Hannah Göppert und Hanns-Jörg Sippel über Ansätze und Projekte

Die Stärkung der Demokratie sei eine Marathonaufgabe, so Hannah Göppert, Co-Geschäftsführerin der Initiative Offene Gesellschaft. Demokratie müsse nachhaltig und langfristig gefördert werden, denn die Bedrohung durch rechtsextreme Akteure spitze sich zu. Auch weil diese sehr strategisch vorgehen, was sich auch im europäischen Vergleich zeige. Unsere Gesellschaft brauche die richtige Balance zwischen einer klaren Abgrenzung zu Demokratiefeind:innen und offenen Räumen der Meinungsvielfalt und des Austausches.

Laut Göppert ist es wichtig, etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen. Daher sollten Mitstreiter:innen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen angesprochen und in die demokratiestärkende Arbeit eingebunden werden. Auch ein übergreifendes Thema helfe, ins gemeinsame Handeln zu kommen Hierzu gehöre etwa Klima und Demokratie. Göppert weist hier auf zwei eigene Projekte hin: Beim „Tag der Offenen Gesellschaft“ kommen niedrigschwellig Personen, etwa Nachbar:innen oder Engagierte, ins Gespräch und tauschen sich über Demokratie aus. Im öffentlichen Raum werden dazu Tische und Stühle aufgestellt und zum gemeinsamen Essen und Austausch eingeladen. Beim Projekt „Faktor D“ wiederum kommen Demokratieakteure aus den deutschsprachigen Ländern der DACH-Region zusammen. Auch hier sei die Perspektive von Freiwilligenagenturen gefragt.

Hannah Göppert | Foto: Initiative Offene Gesellschaft
Hanns-Jörg Sippel | Foto: Stiftung Mitarbeit

Gemeinsam ist man stark: Diesen Eindruck bekommt man schnell bei der Fülle an Angeboten der Stiftung Mitarbeit. Hanns-Jörg Sippel, Vorstand der Stiftung, verdeutlichte beim Thementag die Relevanz von Förderung und Netzwerkarbeit zur Stärkung der Demokratie. Dabei könnten bereits kleine Summen eine große Wirkung entfalten, wie die Stiftung Mitarbeit mit ihrer „Starthilfe-Förderung“ beweise, die Vorhaben von lokalen Projekten und Initiativen unterstützt. Die Liste an unterstützten Vorhaben sei lang und biete viel Inspiration. Aber auch der Austausch von Erfahrungen und Wissen ist laut Sippel entscheidend, und zwar über bestimmte Akteursgruppen hinaus. Dies werde etwa im bundesweiten „Bündnis Bürgerbeteiligung“ deutlich, wo Vertreter:innen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammenkommen.

Um Menschen außerhalb der „eigenen Blase“ zu erreichen, sei es wichtig, aufsuchende Beteiligung umzusetzen, so Hanns-Jörg Sippel. Hierfür biete die Stiftung Mitarbeit Methoden-Workshops an und setze auch ein Forschungsvorhaben um.

Mehr Infos zu den Projekten der Initiativen offene Gesellschaft:

Mehr Infos zu den Projekten der Stiftung Mitarbeit:

Weiterdenken: Was brauchen wir für nachhaltige Demokratie- und Engagementstärkung? Reflexion in Kleingruppen

Mit jeder Menge Input und Beispielen aus der Praxis stand eine zweite Reflexionsrunde in Kleingruppen an. Diesmal sollte die langfristige Perspektive in den Blick genommen werden: Was wird aus den bisherigen Impulsen mitgenommen? Wie kann nachhaltig demokratische Veränderung gefördert werden? Und was braucht es hierfür?

Ausprobieren, Kooperationen aufbauen, aufeinander zugehen und gemeinsam Stellung beziehen: Das sind wichtige Botschaften, welche die Teilnehmenden aus den Impulsen mitnehmen. Dabei steht die Frage, wie möglichst viele Menschen erreicht und eingebunden werden können, im Fokus. Für eine nachhaltige Stärkung der Demokratie braucht es Selbstwirksamkeitserfahrung. Möglich wird diese allerdings erst, wenn konkrete (Begegnungs-) Orte vorhanden sind, in denen Menschen zusammenkommen. Neben einer sicheren Finanzierung und einem klaren Handlungsrahmen braucht es auch eine gemeinsame positive Vision und Zukunftserzählung für unsere Gesellschaft.

Die Ergebnisse der zweiten Reflexionsrunde sind hier als Download verfügbar.

Aus Protesten werden breite Allianzen: Prof. Dr. Sabrina Zajak über Demokratiearbeit auf Augenhöhe

Abschließend gab Prof. Dr. Sabrina Zajak Einblicke in die Protest- und Engagementforschung. Als Leiterin der Abteilung „Konsens und Konflikt“ im Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) wies sie auf die Wechselwirkung zwischen Engagement und Protest hin.

Prof. Dr. Sabrina Zajak | Foto: DeZIM-Institut

Die gerade erlebten Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus bauten auf gewachsenen zivilgesellschaftlichen Strukturen auf – eine Grundlage, die immer auch Ausgangspunkt für neue Initiativen und Gruppen sei. Für die etablierte Zivilgesellschaft stelle dies auch eine Gelegenheit dar, neue und breitere Bündnisse aufzubauen.

Gleichzeitig sind solche Demonstrationen laut Prof. Zajak auch immer ein wichtiger Motivationsfaktor: Besonders wenn rechtes Gedankengut stärker in die Gesellschaft rückt, löse die gemeinsame Protesterfahrung ein Zusammengehörigkeitsgefühl aus und vermittle das Signal, dass man nicht allein sei und Leute für eine gemeinsame Sache gewonnen werden können.

Auf die Frage, wie sich die unterschiedlichen sozialen Gruppen und gesellschaftliche Bereiche zusammenbringen lassen, bietet Zajak eine Lösung an: Intersektionales Brückenbauen. Besonders durch das Erstarken rechter Akteure sei es wichtig, progressive und offene Bündnisse zu bilden. Um diverse Allianzen zu schmieden, müssten Gemeinsamkeiten identifiziert, aber auch Differenzen anerkannt werden. Die Bedürfnisse von diskriminierungs- oder rassismusvulnerablen Gruppen müssen dabei ernstgenommen und eingebunden werden. Das Begegnen auf Augenhöhe, Lerneffekte und Selbstreflektion stellen wichtige Merkmale dar, um Allianzen mit „unlikely Allies“ zur Stärkung von Demokratie und Zusammenhalt zu bilden.

In der Diskussion wies sie darauf hin, dass vor allem die weiße Mehrheitsgesellschaft gefragt sei, sich zu solidarisieren. Den Ball an die migrantischen Communities zurückzuspielen und diese jetzt aufzufordern, selbst für ihre Rechte einzustehen, sei kein Weg, die eigene Verantwortung zu umgehen. Dass die Proteste zuletzt abflachten, überrascht Prof. Dr. Zajak nicht: Proteste verliefen immer in Wellenbewegungen (im Gespräch mit Deutschlandfunk Nova spricht Prof. Zajak über die Dynamik von Protest und über soziale Bewegungen). Es sei daher stets wichtig, die nötigen solidarischen Haltungen in den Arbeitsalltag zu integrieren, auch außerhalb von Großereignissen.