Digitalgespräch über die Entwicklung und Potenziale von Freiwilligenagenturen
Ziemlich beachtlich, wie sich Freiwilligenagenturen in den letzten 20 Jahren entwickelt haben – und ziemlich außergewöhnlich, dass dies so gründlich dokumentiert ist. Das findet Dr. Holger Backhaus Maul, Zivilgesellschaftsforscher an der Universität Halle. Zu den Erkenntnissen hat er selbst maßgeblich beigetragen: Zusammen mit Prof. Dr. Karsten Speck und Maud Krohn hat er die letzten beiden Befragungen von Freiwilligenagenturen durchgeführt und ausgewertet. (Die letzte Studie von 2021 findet sich hier)
In unserem Digital-Talk berichtete der Sozialwissenschaftler am 14. Februar unter anderem, was Freiwilligenagenturen auszeichnet und in welchen Umständen sie sich behaupten. Mögliche neue Potenziale von Freiwilligenagenturen skizzierte er ebenso wie eine angemessene Form ihrer Finanzierung. Hier eine knappe Zusammenfassung.
Wie ist er eigentlich als Forschender zum Thema Zivilgesellschaft und Engagement gekommen?
Wie immer gab es viele Gründe. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten fand Holger Backhaus-Maul immer „als Quelle von Inspiration“. Dazu kam ein Forschungsaufenthalt in den USA. Dort waren „Volunteer Centers“ schon in den 90-er Jahren gang und gäbe. Als dort die Tochter eingeschult wurde, fragte man die Eltern ganz selbstverständlich, welches Engagement die Eltern in die Schule einbringen würden. Und dann hat er „eine große Leidenschaft für harte Themenfelder“. Aber er werde auch belohnt, durch die große Dynamik in dem jungen Feld. „Ein frisches Gegenüber“, sagt der Forscher, der auch Verwaltungswissenschaftler ist.
Was sollen Freiwilligenagenturen davon halten, dass sie in den letzten 20 Jahren von ihm und Kolleg:innen bereits drei Mal befragt wurden?
Geht es nach Holger Backhaus-Maul, sollten sie sich sehr glücklich schätzen. Denn damit habe man ein Alleinstellungsmerkmal: Es gäbe kaum eine andere zivilgesellschaftliche Struktur, deren Entwicklung so gut empirisch dokumentiert ist. Freiwilligenagenturen könnten deshalb sagen: Seht her, wir haben uns beobachten lassen – und zwar unabhängig und wissenschaftlich. Es gab kein Gefälligkeitsgutachten, sondern eine gründliche Analyse durch universitäre Forschung. Das sei ein Pfund, das einem eine gute Position für Aufmerksamkeit und Ressourcen verschaffen sollte.
In der aktuellen Studie ist von „resilienten Strukturen“ die Rede. Worin besteht die Widerstandskraft?
Für Holger Backhaus-Maul haben Freiwilligenagenturen vielerorts Beachtliches geschafft. Zum einen sind sie, trotz begrenzter Ressourcen und Finanzierungshorizonte, über lange Zeit ein präsenter Akteur geblieben, sich beharrlich der Sache widmend. Zum anderen haben sie sich dabei nicht auf Routinen zurückgezogen, sondern immer weiter relevante Angebote entwickelt – am Puls der Zeit, aufgeschlossen für neu entstehende Bedarfe, innovativ.
Gleichzeitig sei manches „prekär“ an Freiwilligenagenturen – was?
Die Kluft zwischen den Aufgaben und der Ressourcenausstattung. In Interviews zur zweiten Studie sei das besonders nachdrücklich klar geworden, denn es flossen zuweilen Tränen. Der Grund: Es gibt so viel zu tun – aber es ist den personellen Mitteln nicht zu schaffen. Und wenn doch, dann nur um den Preis massiver Selbstausbeutung. Hier brauche es gute Selbstschutzmechanismen.
Es gibt einen auffälligen Befund über die Beziehung von Freiwilligenagenturen zu ‚ihrer‘ bagfa und zu ‚ihren‘ lagfas – der da wäre?
Dass die Mitglieder so hoch zufrieden sind mit ihren Landes- und Bundesvertretungen, findet Holger Backhaus-Maul bemerkenswert. Woher kommt so viel Zustimmung? Offenkundig schätzten die Freiwilligenagenturen die Räume für gemeinsamen Austausch, der hier organisiert wird. Man wisse, hier könne man auch am Selbstverständnis arbeiten und sich orientieren.
Was bedeutet die stärkere Kommunalisierung von Freiwilligenagenturen, wie sie die aktuelle Befragung aufgezeigt hat?
Für Agenturen verbinde sich damit oft eine Verstetigung der Finanzierungsperspektive. Inzwischen könnten sich viele auch mal für zwei, drei Jahre ihres Überlebens sicher sein; für Freiwilligenagenturen schon viel wert, „woanders jedoch aberwitzig“, ordnet Holger Backhaus-Maul ein. Und stets bleibe das Risiko, das über allen „freiwilligen Aufgaben“ schwebt: Wenn die kommunalen Mittel knapp würden (und das würden sie immer mal), dann stehe man unter Umständen wieder vor dem Nichts.
Was ändert sich durch kommunale Trägerschaft für die Arbeit von Freiwilligenagenturen?
In kommunale Verwaltungsstrukturen eingebunden, verlören Freiwilligenagenturen oft ihren Innovationsgeist. Unabhängigkeit trägt für Holger Backhaus-Maul zum Gelingen bei. Kommunen schauten eben oft mit einer anderen Logik auf Engagement. Deshalb wünscht sich der Sozialwissenschaftler kommunale Akteure, die die Chancen der Autonomie von Freiwilligenagenturen sehen und Vereine als Trägerinnen akzeptieren. Hierzu setzt allerdings eine Kollegin im Chat zur Gegenrede an: Auch kommunal getragene Freiwilligenagenturen könnten sich gegen die Vereinnahmung wehren, vorausgesetzt, man habe eine Haltung entwickelt und bemerke entsprechende Versuche.
Wie kann eine nachhaltige Förderung von Freiwilligenagenturen aussehen?
Hier legt sich der Sozialwissenschaftler fest: Die Förderung des Engagements gehört in den Bereich kommunaler Daseinsvorsorge – und die Förderung von Freiwilligenagenturen daher in den Pflichtaufgabenbestand jeder modernen Kommunalverwaltung.
Was sind Holger Backhaus-Mauls drei Wünsche an Freiwilligenagenturen?
Gute Tradition am Schluss unseres Talk-Formats: Jede:r Interviewpartner:in darf sich etwas wünschen. Doch diesmal weigert sich unser Gast – mit beachtlicher Begründung: Freiwilligenagenturen seien schon stark mit Ansprüchen „beladen“. Da wolle er keine weiteren hinzufügen.
Allerdings hatte er zuvor schon etwas skizziert, was man als Wunsch verstehen könnte. Zivilgesellschaft sei sehr vielfältig, oft auch fragmentiert. Daher sieht er den Bedarf, den Zusammenhalt der Zivilgesellschaft zu stärken. Eigentlich, so legte er nahe, eine Rolle für Freiwilligenagenturen.
Und bitte Klimaschutz und Rechtspopulismus stärker thematisieren, wünschte er sich zuvor auch an anderer Stelle. In Ostdeutschland organisiere letztere Bewegung schon freiwilliges Engagement. Überhaupt mehr gesellschaftspolitische Rolle wagen, Position beziehen, etwa in Sachen Demokratiestärkung, statt nur den Applaus für die gute Tat einzusammeln.
Die aktuelle Studie „Freiwilligenagenturen in Deutschland. Die Befunde der dritten quantitativen Wiederholungsbefragung“ von Karsten Speck, Holger Backhaus-Maul, Maud Krohn ist hier einzusehen. Mit einer Mail an bagfa@bagfa.de können Sie auch eine Druckversion bestellen.