Citizen Science: Ein Feld für Freiwilligenagenturen?!

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Freiwilliges Engagement gewinnt an Bedeutung im Feld der Wissenschaft: Citizen Science oder Bürgerwissenschaften heißt der Ansatz, der sich für Freiwilligenagenturen zu einem interessanten, innovativen Engagement-Feld entwickeln kann. Er ist u.a. Ausdruck eines politischen Willens zu mehr Partizipation im Bereich Forschung und seine Förderung im Koalitionsvertrag der Bundesregierung verankert. Mit Citizen Science Vorhaben öffnen sich Hochschulen für Bürger:innen und die Zivilgesellschaft und bieten Freiwilligenagenturen Chancen zur Kooperation. Erste gute Beispiele aus einzelnen Freiwilligenagenturen dazu gibt es bereits.

Drei Fragen an Ralf Baumgarth, Themenpate der bagfa für Citizen Science (CS):

Wie bist du zu diesem Thema gekommen? Was macht für dich den besonderen Reiz des Themas aus?

Im Jahr 2018 habe ich im Rahmen einer Veranstaltung zum ersten Mal von Cititzen Science (CS) gehört und die Plattform Bürger schaffen Wissen kennengelernt. Ich dachte mir, dass dieses Engagementangebot für eine akademisch geprägte Bürgerschaft wie die von Heidelberg, wo ich damals für die FreiwilligenAgentur verantwortlich war, interessant sein könnte. Glücklicherweise ergab sich 2019 ein Kontakt zum neu gestarteten Projekt transfertogether.de der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, bei dem die Verbreitung von CS als Forschungsansatz zu den Zielen gehörte. Darauf basierend haben wir eine Reihe von gemeinsamen Aktivitäten z.B. bei der „Nacht der Forschung“ für die Bevölkerung oder in Workshops für Forscher:innen gestartet.

Ralf Baumgarth

Welche Aktivitäten waren für dich als bagfa Themenpate besonders relevant?

Der Einstieg, um Freiwilligenagenturen im Kontext von CS bei den Hochschulen bekannt zu machen, war meine Beteiligung als Referent zum Thema Freiwilligenmanagement im Rahmen der Trainingsworkshops für Mitarbeitende von Universitäten und Hochschulen. Daraus hat sich der Kontakt zu den auf Bundesebene relevanten Akteuren, die hinter Bürger schaffen Wissen stehen, ergeben, die als Thementreiber für eine weitere Verbreitung von CS sorgen. Mit deren Beteiligung habe ich dann als erstes im Juni 2021 ein bagfa-Arbeitsforum zu CS organisiert, um überhaupt einen Eindruck davon zu bekommen, ob es ein Interesse bei den Freiwilligenagenturen für das Thema gibt. Rund 30 Teilnehmende konnten wir dabei begrüßen – eine durchaus „kritische Masse“, um zu entscheiden, dass ich für die die bagfa als Themenpate aktiv werden soll. Seitdem habe ich mich mit meinem Expertenwissen z.B. in den Prozess zur Entwicklung einer bundesweiten CS-Strategie 2030 eingebracht, beim jährlichen Forum CS 2022 einen Input geliefert. Außerdem war und bin ich im Rahmen der Planung und Umsetzung des Citizen Science Wettbewerb beteiligt.

Wie schätzt du die Zukunftsmusik für Freiwilligenagenturen ein?

Ich glaube, dass CS viel Potential für die Freiwilligenagenturen bietet. Dafür sehe ich mehrere Gründe:

  • Für Freiwilligenagenturen, die innovative Engagementformen initiieren und fördern wollen, um neue Freiwillige zu erreichen, ist CS – gerade auch bei den Projekten, die eine digitale Teilnahme ermöglichen – eine spannende Option.
  • Freiwilligenagenturen, die Kontakte zu Hochschulen suchen, können CS – neben oder als Ergänzung zum Ansatz von Service Learning für Studierende – als potenzielles Kooperationsangebot nutzen.
  • Mit ihrer Expertise zum Freiwilligenmanagement können sie einen Beitrag leisten, um CS-Projekte qualitativ zu verbessern. Und mit ihren Kontakten zur Zivilgesellschaft können sie für Forschende neue Zugänge zu Zielgruppen und zur Formulierung neuer Forschungsfragen erschließen.

Citizen Sciences und Freiwilligenagenturen

Was ist Citizen Science?

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„Gemeinsam Wissen schaffen“ ist die Botschaft, die hinter CS – oder übersetzt „Bürgerwissenschaft“ – steht und in diesem Video ausführlicher erklärt wird.

Eine umfassende Definition von Citizen Science gibt es im Grünbuch einer Citizen Science Strategie für Deutschland 2020: „Citizen Science umfasst die aktive Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern in verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses (…). Die Beteiligung reicht von der Generierung von Fragestellungen, der Entwicklung eines Forschungsprojekts über Datenerhebung und wissenschaftliche Auswertung bis hin zur Kommunikation der Forschungsergebnisse. Dabei kann sich die Zusammenarbeit zwischen Forschungseinrichtungen und institutionell ungebundenen Personen sehr unterschiedlich gestalten, von völlig eigeninitiierten „freien“ Projekten (…) bis hin zur Anleitung durch wissenschaftliche Einrichtungen. Gemeinsames Ziel aller Citizen-Science-Projekte ist das Schaffen neuen Wissens. Hierbei wird an Forschungsfragen gearbeitet, deren Beantwortung einen Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft sowie oft auch für Praxis und Politik mit sich bringt.“

Zahlreiche weitere Informationen zu CS findet man bei Bürger schaffen Wissen, der zentralen Plattform für Citizen Science in Deutschland, deren Ziel es ist, den Ansatz in Deutschland weiterzuentwickeln und bekannter zu machen. Wissenschaft im Dialog und das Museum für Naturkunde Berlin sind dabei die zentralen Akteure.

Dort finden sich auch Antworten auf die Fragen: „Warum Citizen Science? Was sind die Vorteile? Was sind die Herausforderungen?“

Bürger schaffen Wissen organisiert auch eine digitale Mittagspause, die in der Regel am letzten Freitag des Monats von 12 bis 13 Uhr via Zoom stattfindet und interessante und aktuelle Einblicke in das Arbeitsfeld ermöglicht.

Außerdem gibt es eine umfangreiche Online-Datenbank zu laufenden (und abgeschlossenen) CS-Forschungs-projekten mit Suchoptionen nach Themen, Orten, der Möglichkeit online mit zu forschen oder für Kinder geeigneten Projekten.

Graphic Recording von Lorna Schütte

Welche aktuellen Entwicklungen zu CS gibt es?

Aktuell gibt es unterschiedliche Anlässe, die dem Thema Citizen Science Aufmerksamkeit und Bedeutung beimessen:

  • aus der Perspektive der Politik: Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung greift das Thema auf: „Wir werden mit Citizen Science und Bürgerwissenschaften Perspektiven aus der Zivilgesellschaft stärker in die Forschung einbeziehen. Open Access und Open Science wollen wir stärken.” (Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der SPD, BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und der FDP)
  • aus Perspektive der Wissenschaft: Seit zwei Jahren formiert sich die Citizen Science-Community in Deutschland, um die Citizen Science-Strategie 2030 in Form des Citizen Science-Weißbuchs zu formulieren. Ziel ist es, Citizen Science zu einem selbstverständlichen, integralen Bestandteil von Wissenschaft und Gesellschaft zu machen, um Innovation durch Beteiligung zu ermöglichen.
  • aus der Perspektive der Gesellschaft: Unter dem Motto „Nachgefragt“ hatte das Wissenschaftsjahr 2022 Menschen in Deutschland dazu aufgerufen, sich unter dem Hashtag #MeineFragefürdieWissenschaft aktiv in den Diskurs mit der Wissenschaft einzubringen.

Einen guten Überblick zum aktuellen Diskussionsstand liefert ein Blog-Beitrag vom Forum Citizen Science 2022 unter dem Titel „Wie steht es um die Bürgerwissenschaft?“

Welche engagementbezogenen Fragen zu Citizen Science stellen sich?

Citizen Science bringt drängende Probleme auf die Forschungsagenda: Je mehr die Bürger:innen selbst in den Forschungsprozess eingebunden sind und ihn aktiv mitgestalten können, desto größer ist der Mehrwert. Doch ergeben sich dabei zahlreiche Fragestellungen:

  • Wie und wo finden akademisch Forschende Anknüpfungspunkte für den Kontakt mit engagierten Bürger:innen?
  • Wie können mehr Menschen von der Möglichkeit zur Mitwirkung an CS-Projekten erfahren?
  • Wie können mehr Menschen für ein Engagement in CS-Projekten gewonnen werden?
  • Wie können bestimmte Zielgruppen (ältere Menschen, mit Migrationsgeschichte, Menschen mit Behinderungen, …) besser für ein Engagement in CS-Projekten erreicht werden?
  • Wie können mehr Menschen und zivilgesellschaftliche Akteure als Initiator:innen oder Mit-Gestalter:innen für/in CS-Projekten aktiviert werden?

Freiwilligenagenturen als Partner für Citizen Science Projekte

Je nach Zielsetzung des Citizen-Science-Projekts und konkretem Angebotsportfolio der lokalen Freiwilligenagentur gibt es eine ganze Reihe von möglichen, weiteren gemeinsamen Handlungsfeldern: Freiwilligenagenturen können Einzelne oder Gruppen beim Aufbau eigener Citizen-Science-Projekte unterstützen oder auch selbst Citizen-Science-Projekte initiieren oder koordinieren. Weiter sind sie hervorragend vernetzte Multiplikator:innen für die allgemeine Stärkung der Beteiligung. Eine erste Ideensammlung zu Anknüpfungspunkten finden sich in diesem Schaubild:

Wo gibt es bereits gute Beispiele in Freiwilligenagenturen?

Einige Freiwilligenagenturen haben sich auf den Weg gemacht, um das Thema CS in ihrer Arbeit aufzugreifen. Dazu drei Beispiele mit unterschiedlichen Zugängen und Aktivitäten:

Freiwilligen-Agentur Halle:

Die Freiwilligenagentur in Halle verfügt bereits seit vielen Jahren über gute Hochschul-Kontakte u.a. durch ihre Angebote zum Service-Learning für Studierende. Die Zusammenarbeit wurde intensiviert, es gibt eine gute Entwicklung mit der Leopoldina, und der Kontakt mit dem Wissenschaftszentrum wurde neu aufgebaut.

Konkrete Kooperationen konnten in mehreren CS-Projekten entwickelt werden: „Eintauchen in die Geschichte der Leopoldina“ (Freiwillige katalogisieren die Persönlichkeiten aus der Geschichte der Leopoldina), Hallesche Heiratsgeschichten (alte Kirchenbücher werden digitalisiert), Aqua Check zur Gewässerqualität mit einem Forschungsinstitut an der Uni. Bei den jeweiligen Informations-/Einführungsveranstaltungen für Interessierte erfährt die Agentur einen großen Zulauf und eine bunte Mischung an Freiwilligen. Für die Vorhaben, die eine online-Beteiligung ermöglichen, nutzt die Agentur die Schnittmengen zu gutes-geht.digital.

Freiwilligenagentur Bremen:

In Bremen führt die Universität Bremen das Projekt „GINGER“ durch, bei dem das Phänomen „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ erforscht und jungen Menschen Zugänge zu wissenschaftlichem Arbeiten ermöglicht werden sollen. Dazu arbeitet sie in Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und hat den Kontakt zur Freiwilligenagentur gesucht. Zu den Veranstaltungen der Freiwilligenagentur zählt regelmäßig das PULS-Feriencamp für Jugendliche, bei dem die Teilnehmenden Einblicke in verschiedene Formen von sozialem Engagement erhalten. Im Rahmen des Feriencamps wurde mit den Teilnehmenden ein Workshop zum Thema „Klimagerechtigkeit“ durchgeführt, bei dem die Jugendlichen auch selbstständig eine Umfrage in der Bremer Innenstadt durchgeführt und ausgewertet haben.

engagiert in ulm

Eine langjährige Kooperation besteht in verschiedenen Projekten zwischen der Freiwilligenagentur und dem ZAWiW der Universität Ulm, einem Institut, das „für den Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Bürgergesellschaft“ steht. So beteiligte sich engagiert in ulm e.V. 2022 an einem Aktionstag des ZAWiW mit konkreten Angeboten für Citizen Science-Projekte wie z.B. RADar macht SAFE (z.B. Sensoren für sicheren Abstand beim Fahrradfahren), einem Open Data-Projekt zur Messung von Trockenstress von Pflanzen. Die Rolle der Agentur bestand darin, die Projekte zu bewerben.

Beim CS-Wettbewerb „Auf die Plätze“ beteiligte sich engagiert in ulm e.V. gemeinsam mit dem ZAWiW und der Volkshochschule mit einer gemeinsamen Projektidee, die aber nicht für eine Förderung ausgewählt wurde. Mit der Initiierung eines Ulmer Netzwerks für Bürgerwissenschaften soll das Thema aber lokal weiter vorangebracht werden. Dort sollen u.a. Projekte und Vorhaben von Bürgerwissenschaften gestärkt und sichtbar gemacht werden. Bei geplanten Projekt- oder Aktionstagen steht zudem die Initiierung neuer Vorhaben sowie der Austausch unterschiedlicher Akteure, Interessierter und Freiwilliger im Fokus.

Zwischenfazit der drei Agenturen:

  • CS hat ein großes Potential für Freiwilligenagenturen, vor allem, um neue Zielgruppen (auch zu neuen Themen) zu erreichen.
  • CS ist eine gute Ergänzung des Angebots für freiwillig Engagierte, besonders der Faktor des Digitalen, Ortsunabhängigen ist attraktiv für bestimmte Zielgruppen.

Welche Stolpersteine und welche Gelingensbedingungen für Freiwilligenagenturen gibt es beim Thema Citizen Science?

  • Es kann schwierig sein, eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Ausgangspunkte zu finden, weil die Logiken der Wissenschaftswelt und der Engagementwelt unterschiedlich sind.
  • Unterschiedliche Welten ernst nehmen und genau schauen, ob eine Zusammenarbeit fruchtbar ist, um ansonsten auch mal Kooperationsanbahnungen abzubrechen, wenn es gar nicht passt.
  • Kontakt mit der Hochschule kann unproblematischer sein, wenn die Ansprechpersonen dort aus dem Bereich Wissenschaftskommunikation kommen.
  • Multiplikatorenfunktion nutzen und Kooperationen in Citizen Science Projekten auf der/den eigenen Plattformen (Homepage, social media, …) darstellen.
  • CS mit Service Learning gemeinsam als Kooperationsmöglichkeiten mit Hochschulen denken.
  • CS immer mitdenken, auch in anderen Zusammenhängen und Projekten, auch in der eigenen Öffentlichkeitsarbeit.

Wie können erste Schritte (auch ohne eigenes Projekt) in das Feld Citizen Science aussehen?

Überblick verschaffen

  • In bestehenden Kooperationen schauen, ob vielleicht CS schon „drinsteckt“, auch wenn es nicht so genannt wird.
  • In der Projektdatenbank von Bürger schaffen Wissen und in den Kommunikationswegen von lokalen Hochschulen (Transferstellen, Wissenschaftskommunikation) recherchieren, ob es lokal oder thematisch interessante CS-Projekte gibt, die sich für eine Kooperation nutzen lassen.

Klein anfangen: Probieren statt studieren

  • Anlässe, die es schon gibt, oder Projekte, deren Umsetzung man ohnehin plant (z. B. zu digitalem Engagement wie gutes geht digital), „durch die Citizen Science-Brille anschauen“ und nach Anknüpfungspunkten suchen.
  • Evtl. zum eigenen Freiwilligentag mal ein „kleines“ Projekt aus dem Bereich CS anbieten oder im Rahmen von Engagementmessen o.ä. der Präsentation von CS-Projekten Raum geben.

Schwarmintelligenz nutzen

  • Einen Partner vor Ort suchen, der sich für CS interessieren könnte und z.B. ein eigenes Forschungsinteresse hat (Zivilgesellschaft im Bereich Naturschutz/Ökologie/Kultur) – nicht unbedingt ein eigenes Projekt initiieren, wenn man wenig Ressourcen hat.
  • Einen Gesprächsrahmen zum Austausch und Kennenlernen bieten für Akteure aus Wissenschaft, Bürgerschaft und Zivilgesellschaft zum Thema CS und Ideen spinnen, um sich ggf. am Wettbewerb „Auf die Plätze! Citizen Science in deiner Stadt“ zu beteiligen.
Logo des Citizen Science-Wettbewerbs 2023

Die Texte und Materialien zu Citizen Science wurden von Ralf Baumgarth (lagfa Baden Württemberg, Themenpate für CS der bagfa) verfasst und zusammengestellt.