20.02.2023

Was Einsamkeit bedeutet und was Engagement dagegen ausrichten kann: 55 Minuten mit Jun.-Prof. Dr. Susanne Bücker

Fünf Einsichten und Anregungen für die Praxis aus unserem Digital-Talk über einen besseren Umgang mit einem tabuisierten, gefährlichen Gefühl

Es gilt als „stilles Thema“, aber das enorme Interesse von Kolleg:innen an unserem Talk dazu hatte eine laute Botschaft: Einsamkeit ist ein wachsendes Problem und eine Herausforderung, die auch Freiwilligenagenturen unter den Nägeln brennt. Dafür muss man Einsamkeit nicht gleich als „größte Volkskrankheit“ titulieren, wie kürzlich die Stiftung Patientenschutz. Auch muss man nicht, wie ein Buchtitel, das „Zeitalter der Einsamkeit“ ausrufen. Mit der Junior-Professorin Dr. Susanne Bücker von der Deutschen Sporthochschule Köln, einer ausgewiesenen Expertin in Sachen Einsamkeit, sprachen wir am 13. Februar 2023 über das Phänomen Einsamkeit, seine Formen, Ursachen und Folgen – und inwieweit freiwilliges Engagement ein Mittel der Prävention und Intervention sein kann. Für die Psychologin ist sicher: Man kann Einsamkeit vermeiden und mildern. Wenn die Bundesregierung derzeit an einer Strategie gegen Einsamkeit arbeite, sollte Engagement dabei eine wichtige Rolle spielen.

Aufgrund der hohen Nachfrage stellen wir eine Audioaufzeichnung des Gesprächs zur Verfügung. Bitte hier klicken, um sie auf Youtube anzuhören. Außerdem haben wir hier fünf zentrale Einsichten zusammengefasst, die alle auch praktischen Konsequenzen in der Engagementförderung haben.

1 Einsamkeit ist ein facettenreiches Phänomen, das in seiner Komplexität verstanden sein will.

Die sozialen Beziehungen sind nicht so, wie man sie sich wünscht: Das ist für Susanne Bücker eine Definition von Einsamkeit, um gleich anzuschließen: Es gibt unterschiedliche Formen davon. So könne man unterteilen in 

+ emotionale Einsamkeit: wenn Partnerschaft oder tiefe Freundschaft vermisst wird,

+ soziale Einsamkeit: wenn es nur lose Kontakte gibt, aber regelmäßige soziale Einbindung fehlt, und

+ kollektive Einsamkeit: wenn man die Werte des Umfelds nicht teilt, sich im eigenen Umfeld nicht verstanden, abgebildet oder eingebunden fühlt.

Diese Unterschiede resultieren aus verschieden gelagerten Bedarfen, zu denen jeweils unterschiedliche Engagementangebote passen. Vielschichtig ist das Phänomen zudem dadurch, dass es gesellschaftliche wie personenbezogene Ursachen gibt. Zu den großen Risikofaktoren gehören ein niedriger sozioökonomischer Status, Arbeitslosigkeit, auch ein Migrationshintergrund sowie bestimmte Charakterzüge wie Pessimismus. Hinsichtlich des Alters trifft es nicht nur, wie das Klischee annimmt, hochaltrige Menschen, sondern besonders auch junge.

Fünf bis 15 Prozent der deutschen Bevölkerung lassen sich als chronisch einsam beschreiben. Immerhin sind dies Millionen Menschen, die auch die Folgen des chronischen Stresses, der mit Einsamkeit einhergeht, erleiden: Viele Krankheiten treten früher und häufiger auf, sie haben ein höheres Sterberisiko.

2 Es lohnt sich, sich mit den eigenen Stereotypen auseinanderzusetzen, um besser mit einsamen Menschen umzugehen.

Sind chronisch einsame Menschen im Umgang komplizierter als andere? Möglich, dass das zuweilen zutrifft, da auch der Verlust sozialer Fähigkeiten damit einhergehen kann. Sicher ist aber, dass bei dieser Wahrnehmung auch Klischees und Vorurteile im Spiel sind, die Vereinsamung mit begünstigen. Das Stigma ist Teil der Einsamkeitsprobleme. Susanne Bücker empfiehlt hier, in sich hineinzuhorchen: Was für ein Bild habe ich von uns als Gesellschaft? Wie stelle ich mir eine chronisch einsame Person vor? Welche Attribute verbinde ich mit dieser Gruppe? Man wird Aspekte finden, die vielen Betroffenen nicht gerecht werden und potenziell ausgrenzend wirken.

3 Es gibt wichtige praktische Tipps, damit sich einsame Menschen gesehen und aufgenommen fühlen.

Wichtig ist Aufgeschlossenheit und Neugier, was mit einem Menschen los ist! Statt Vermutungen anzustellen, besser: nachfragen! Direkt auf Einsamkeit ansprechen, verbietet sich allerdings, sagt Susanne Bücker. Geeigneter seien Umschreibungen, ob man sich mehr Kontakte wünscht oder unverbunden fühlt; außerdem Selbstoffenbarungen, indem man von eigenen Phasen der Einsamkeit erzählt, was seit Corona leichter, da üblicher geworden sei. Und besonders wichtig sei daran zu denken, dass einsame Menschen dazu neigen, soziale Situationen negativer wahrzunehmen: Sie interpretieren etwas schneller als Zurückweisung.

Oft braucht der Kontaktaufbau mehr Zeit und einen längeren Atem. Entscheidend auch, dass einsame Menschen angemessene Erwartungen haben, wenn sie sich engagieren. Dass gleich bei den ersten Einsätzen soziale Verbundenheit entsteht, die alle Einsamkeit verscheucht, wäre eine Erwartung, die nicht eingelöst werden und kontraproduktiv wirken kann. Entsprechende Begleitung ist insofern ein Gelingensfaktor.

4 Einsamkeit kann sozial/politisch eingedämmt werden. Um es im oder durch Engagement abzubauen, braucht es bestimmte Formen der Angebote.

Auf sozialer Ebene kann man an vielen Stellen entgegenwirken: Stadtplanung etwa kann Gemeinschaftsflächen vorsehen, die kostenlos genutzt werden können. Auf individueller Ebene lässt sich (notfalls therapeutisch) daran arbeiten, etwa wie man manche soziale Kontakte und Möglichkeiten dazu wahrnimmt. Dazwischen gibt es die sozialen Gelegenheiten, die etwa im Engagement angesiedelt sind. Hier sei wichtig, sagt Susanne Bücker, dass alle Beteiligten spüren können, dass sie „gebraucht“ werden, dass sie etwas „beitragen“ können. Nicht geeignet: wenn die einsamen Menschen als bedürftig betüddelt werden, ohne dass sie selbst das Gefühl bekommen, wichtig zu sein.

Wenn die Bundesregierung, wie derzeit, eine Strategie gegen Einsamkeit plane, müsse Engagement eine wichtige Rolle spielen.

5 Wer Einsamkeit politisch bekämpfen will, muss schon bei der Finanzierung mitdenken, dass es besondere Bedingungen braucht, um einsame Menschen einzubinden.

Stets ein Geben und Nehmen, ein gemeinsames Wirken ermöglichen, ohne vorher die Bedürftigen einseitig adressieren: Darauf kommt es für Susanne Bücker an. Das hat auch fördertechnisch weitreichende Konsequenzen: Projektkonzeptionen, die die Zielgruppe der einsamen Personen als „Engagement-Empfänger:innen“ denken, seien nicht geeignet. Auch wenn es aufwendiger und teurer wäre, ginge es von vornherein darum, die Beiträge beider Seiten einzuplanen.

Überhaupt seien kurzfristige Projektzeiträume kein passender Rahmen. Vieles mit einsamen Menschen könne längere Prozesse und mehrere Anläufe erfordern – nichts, was in festgelegten Zeiten erledigt wäre. „Dranbleiben“, „hinterherlaufen“ muss ermöglicht werden. Zumal wenn es darum gehe, aufsuchend zu arbeiten, weil Menschen nicht mehr in Einrichtungen kommen (können). Zudem sieht Susanne Bücker die Gefahr, dass auf politischer Seite die Versuchung besteht, Ehrenamtliche sollten sich allein um die Einsamkeitsbekämpfung kümmern. Es brauche aber unbedingt hauptamtliche Strukturen, um die nötigen Prozesse zu managen.

Einige Kommentare von Kolleg:innen aus dem Chat während des Digitaltalks

„Das Thema ‚gebraucht werden‘ ist auch wichtig im Zusammenhang Einsamkeit. Nicht nur daran denken, ob man Ehrenamtliche findet, die sich mit von Einsamkeit betroffenen Menschen treffen etc., sondern genau diese Menschen selbst bei sozialem Engagement zu begleiten bzw. dies zu ermöglichen.“

Wir benötigen noch mehr und nachhaltige Orte der Willkommenskultur, wo das Miteinander und Füreinander „Programm“ ist. Dieses ist moderne neue soziale Arbeit. Hier kann individuelles Engagement möglich, Kontakte neu gewonnen werden!“

„Bei unserer FWA finden Menschen grundsätzlich ein offenes Ohr, aber das ist aus personellen Ressourcen nur punktuell möglich. Interessant wären Ideen für größere Projekte, die wir als FWA für die Bürgerschaft anbieten könnten.“

„Wer kennt die ‚Plauder-Bank‘, wo man sich bewusst hinsetzen kann, wenn man ins Gespräch kommen will? Antwort „Schwätzbänkle“ vom Landesseniorenrat Baden Württemberg, siehe hier. Verwiesen wird auch auf das Stuttgarter „Plaudertelefon – Stuttgart nimmt sich Zeit”.

„Habe ich es richtig verstanden, dass es eigentlich vor allem eine Gehstruktur geben müsste, statt einer Kommstruktur? Wäre es da nicht wichtig, so etwas wie ein Kümmerer-Projekt für das Quartier zu entwickeln?“

„Den Blick auf ‚was funktioniert‘ nicht vergessen.“