17.03.2022

Neue Veröffentlichung: Selbstorganisationsfähigkeit stärken – Strukturwandel mitgestalten. Von Dr. Holger Krimmer, hrsg. vom Netzwerk Engagementförderung

Eine Expertise zur Rolle engagementfördernder Einrichtungen in der Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft

Zusammenfassung:

Die (Zivil-) Gesellschaft steht vor großen Herausforderungen: Demografischer Wandel, Digitalisierung, Klimawandel, soziale Ungleichheit… Wie können engagementfördernde Organisationen diesen Herausforderungen begegnen und den gesellschaftlichen Wandel mitgestalten? Die Publikation skizziert aktuelle Wandlungsprozesse und leitet daraus hilfreiche Zukunftsperspektiven für die zentralen Akteure im Feld der Engagementförderung ab. Wichtige Felder wären dabei, die Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft partizipativ zu begleiten, Vereine in ihrer Struktur zu stärken und digitale Kompetenzen weiterzugeben sowie lokale Synergien zu nutzen und gemeinsame Leitbilder für gutes Engagement vor Ort zu verankern. Engagement würde so – auch als innovative Zukunfts- und Gestaltungsressource – einen noch wirkungsvolleren Beitrag zur Stärkung des demokratischen Zusammenhalts leisten.

Die vollständige Expertise können Sie hier als PDF herunterladen.

Im NETZWERK ENGAGEMENTFÖRDERUNG haben sich die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen e.V. (bagfa), die Bundesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros e.V. (BaS), die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG), das Bündnis der Bürgerstiftungen Deutschlands (BBD) und das Bundesnetzwerk Mehrgenerationenhäuser e.V. (BNW MGH) zusammengeschlossen. Sie haben sich – über die Besonderheiten der jeweiligen Einrichtungen hinweg – gemeinsam zur Aufgabe gemacht, die lokalen Engagementstrukturen nachhaltig und verlässlich zu stärken.

Einführung

Deutschland steht vor großen Herausforderungen: der demografische Wandel, Integration und Inklusion, Digitalisierung, Bildungsungerechtigkeit, die gesellschaftliche Fragmentierung, das Auseinanderdriften von Arm und Reich…

Was können und müssen die engagementfördernden Organisationen tun, um diesen Herausforderungen zu begegnen? Wie können wir den gesellschaftlichen Wandel mitgestalten? Was ist als zivilgesellschaftliche Akteurin unsere Rolle und wie steht es überhaupt um unsere strukturelle Anpassungsfähigkeit?

Um auf all diese Fragen eine Antwort zu finden, beauftragte das Netzwerk Engagementförderung Dr. Holger Krimmer von der Ziviz gGmbH mit einer Untersuchung. Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis. Sie basiert auf den neuesten Analysen und Umfragen sowie auf Gesprächen mit den Verantwortlichen der involvierten Dachverbände. Die Publikation vermittelt ein aktuelles Bild zum Wandel der Zivilgesellschaft, skizziert eine zukunftsorientierte Engagementförderung und dient nun als Grundlage für Diskussionen mit unseren Mitgliedern sowie mit politischen Entscheidungsträger:innen.

Unsere Mitgliedsorganisationen sind lokal engagiert, sie ermöglichen Teilhabe und sie machen Demokratie erleb- und erfahrbar. Sie sind auch flexibel und offen für Neues, offen für den eigenen Strukturwandel. Mit dieser Expertise machen wir uns gemeinsam als Netzwerk auf den Weg, ihn voranzutreiben, um auch in Zukunft gute und zeitgemäße Angebote für Engagierte machen zu können.

Zentrale Überlegungen der Expertise

Nach Dekaden des Wachstums befindet sich die Zivilgesellschaft in einem Veränderungsprozess und steht vor neuen Herausforderungen. Neue Themen lösen alte ab. Die Digitalisierung ermöglicht neue Organisationsformen, in und jenseits klassischer Strukturen der Selbstorganisation. Die Erwartungen an und Motive für ein Engagement haben sich geändert. Die zentrale Bedeutung der Gemeinschaftsbildung in einem Verein weicht zunehmend dem Anspruch, mit dem eigenen Tun gesellschaftliche Wirkung zu entfalten. Der Verein und auch andere Formen gemeinnütziger Selbstorganisation verlieren zumindest partiell an Eigenwert und bekommen einen instrumentellen Stellenwert. Auch in den Augen von Engagierten müssen sich Formen zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation stärker daran messen lassen, ob sie dazu in der Lage sind, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken und Mitgestaltung ins Werk zu setzen. Der Anspruch, Wirkung zu entfalten, ist in Selbstwirksamkeitserfahrungen einzulösen.

Diese Entwicklungen laufen in unterschiedlichen Regionen und Kontexten verschieden ab. Insbesondere divergieren städtische und ländliche Entwicklungsmuster. Langanhaltende Migrationsprozesse aus ländlichen in großstädtische Regionen verändern die demografischen Strukturen vor Ort. Am stärksten sind davon die ostdeutschen Bundesländer betroffen.

Neben dieser siedlungsstrukturellen Spaltungslinie, teils mit dieser in Verbindung stehend, entwickeln sich neue gesellschaftliche Konfliktfelder. Es gibt sowohl Gruppen, die den sozialen Wandel bejahen und pluralistisch orientiert sind als auch Gruppen, die dem Wandel ablehnend gegenüberstehen und gesellschaftliche Schließungsprozesse propagieren. Sie tragen neue Herausforderungen in die Engagementpolitik, da sich beide zivilgesellschaftlich organisieren. Das zivilgesellschaftliche Engagement verliert durch diese stärker in öffentliche Erscheinung tretende „dunkle Seite“ ihren Unschulds-Nimbus. Die daraus resultierende demokratiepolitische Anforderung an Engagementförderung und -politik erhält einen zusätzlichen Resonanzraum durch das bevorstehende politische Großprojekt der Transformation. Zukünftig stärker werdende, mit dem Wandel einhergehende Zumutungen, die durch wirtschaftlichen Umbau, den Wandel von Mobilität, Konsumfreiheiten und weitere Ursachen zu erwarten sind, werden bislang noch kaum in eine Politik der gesellschaftlichen Mitverantwortung und Beteiligung übersetzt. Fragen der Generationengerechtigkeit und Demokratieförderung gewinnen auch damit zusätzlich an Bedeutung.

Daraus resultieren neue Anforderungen an eine zukünftige Engagementförderung:

  • DIGITALER WANDEL UND UNTERSTÜTZUNGSBEDARFE:
    Der durch die Corona-Pandemie beschleunigte digitale Wandel im Engagement erfordert breitere Beratungs- und Unterstützungsstrukturen vor Ort. Der Aufbau solcher dezentraler Unterstützungs- strukturen kann Gegenstand für ein breit angelegtes Modellprogramm sein und wird engagementfördernde Einrichtungen vor Ort noch langfristig beschäftigen.
  • SELBSTORGANISATIONSFÄHIGKEIT IN SCHWIERIGEN LAGEN STÄRKEN:
    Die rückgängige Bereitschaft zur Übernahme von Leitungsfunktionen in gemeinnützigen Organisationen stellt für eine zunehmende Anzahl von ihnen eine existentielle Herausforderung dar. Die Aufrechterhaltung der eigenen Selbstorganisationsfähigkeit führt zu unterschiedlichen Beratungs- und Förderbedarfen und wirft auch die Frage nach einer zukunftsfähigen Weiterentwicklung von Organisationsstrukturen auf.
  • TRANSFORMATION PARTIZIPATIV WEITERENTWICKELN:
    Die politisch viel diskutierte Herausforderung einer Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft führt schon jetzt zu einer Beschleunigung von sozialem Wandel. Gleichzeitig wachsen Wahrnehmungen von Spaltungen und Polarisierungen in der Gesellschaft. Für die lokale Engagementförderung folgt daraus ganz praktisch die Frage, wie politisch initiierter Wandel durch Dialogforen oder andere Formate sozial übersetzt werden kann und Bürger:innen von Objekten zu Subjekten des Wandels werden.
  • SYNERGIEN IN DER ENGAGEMENTFÖRDERUNG GEZIELT NUTZEN:
    Engagementförderung auf lokaler, Landes- und Bundesebene ist in den vergangenen Dekaden zu einem Handlungsfeld mit komplexen Akteurskonstellationen geworden. Zuletzt kam die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt hinzu. Bislang gelingt es vor allem aufgrund eher kompetitiven (Förder-)Strukturen und mangelnder Strategie noch nicht ausreichend, die möglichen Synergien zwischen den Ebenen oder auch zwischen öffentlichen und gemeinnützigen Akteuren wirkungsvoll umzusetzen. Das könnte aber ein wichtiger Hebel zur Weiterentwicklung der Engagementförderung sein.
  • LEITBILDER FÜR EIN GUTES ENGAGEMENT AUF LOKALER EBENE ENTWICKELN:
    Zivilgesellschaftliches Engagement ist nicht immer demokratiefreundlich und richtet sich z.T. gegen eine bunte und weltoffene Gesellschaft. Auch demokratiegefährdende Bewegungen bedienen sich immer häufiger genuin zivilgesellschaftlicher Ausdrucksformen. Engagementfördernde Einrichtungen sollten angeben können, welche Formen des Engagements sie unterstützen. Sie können als wichtige Partner für eine Politik der Stärkung demokratischer Strukturen vor Ort wirksam werden indem sie in Kooperation untereinander mit den politischen Akteuren vor Ort Leitbilder für ein „Gutes Engagement“ entwickeln.