12.04.2024

Mitgestaltung vor Ort für eine Demokratie der Zukunft: Dokumentation zum bagfa-Arbeitsforum „Haltung zeigen! Aber wie?“

Wie geht es weiter mit unserer Demokratie und welche Rolle übernehmen Freiwilligenagenturen? Einblicke in das bagfa-Arbeitsforum am 9. April 2024

Es war ein kraftvoller Start in das Jahr: Die Correctiv-Recherche zum „Geheimplan gegen Deutschland“ hat Millionen von Menschen auf die Straße gebracht. Es ist die größte Protestwelle seit Jahrzehnten. Mit den vielen Wahlen in diesem Jahr steht auch einiges auf dem Spiel: Die Angst vor antidemokratischen und rechtsextremen Kräften in Parlamenten und Entscheidungspositionen wächst. Es geht also ums Ganze.

Da machen die deutschlandweiten Proteste Hoffnung und zeigen eine starke Zivilgesellschaft, der es mit Netzwerken und Strukturen gelungen ist, große Demonstrationen zu organisieren und viele Menschen zu mobilisieren. Aus diesen Dynamiken ergeben sich einige Frage für die Freiwilligenagenturen: Welche Rolle haben die Agenturen in den Protesten? Wie können sie Haltung zeigen und nach außen tragen? Was braucht es hierfür und wie können die Agenturen gemeinsam und nachhaltig für Demokratie aktiv sein?

Über 60 Kolleg:innen aus Freiwilligenagenturen kamen am 9. April in einem digitalen bagfa-Arbeitsforum zusammen um Antworten auf diese Fragen zu finden. Unter dem Motto „Haltung zeigen! Aber wie? Freiwilligenagenturen und ihre Rolle in der Demokratie“ diskutierten sie konkrete Ideen, um Demokratie zu fördern oder sich klar zu positionieren – und was es dafür braucht.

Doch um eine Grundlage für das gemeinsame Arbeitsforum zu legen, nahmen die Teilnehmenden zuerst an einer Menti-Umfrage teil. Auf die Frage „Was beschäftigt euch aktuell im Feld Demokratie?“ antworteten die Kolleg:innen:

Aus gegebenem Anlass haben wir einen Schwerpunkt zum Thema „Engagement und Protest für Demokratie, Vielfalt und gegen Rechtsextremismus“ hier auf unserer Website veröffentlicht. Hier finden sich Hintergründe, Praxisbeispiele und Hilfestellungen als Sammlung.

Starke Exekutive, selbstbewusste Zivilgesellschaft – Prof. Dr. Roland Roth über Demokratie, Zivilgesellschaft und Freiwilligenagenturen

Demokratie, das ist ein komplexer Begriff, der viele Bedeutungen enthält. Neben Wahlen und Entscheidungsträger:innen gewinnt auch die Perspektive von Demokratie als „Alltagsform“ an Bedeutung. Um einige Grundlagen für die weitere Diskussion zu schaffen, teilte Politik- und Demokratieforscher Prof. Dr. Roland Roth in einem Input einige Gedanken zu Demokratie, kommentierte die aktuelle Protestwelle und sprach Empfehlungen für die Freiwilligenagenturen aus.

Prof. Dr. Roland Roth

Unsere Demokratie stehe unter Druck, so eine zentrale These von Roland Roth. Die derzeitigen „Polykrisen“, etwa die Corona-Pandemie oder der fortschreitende Klimawandel, und die damit verbundenen Transformationsprozesse stünden in einem Spannungsverhältnis. Um dieses aufzulösen, brauche es eine verstärkte Einbindung der Bevölkerung sowie Instrumente der Beteiligung und Mitgestaltung, folgt man einer Empfehlung der OECD.

In Hinblick auf die Polykrisen zeige sich laut Roland Roth aber derzeit das Gegenteil: Große und kurzfristige Entscheidungen würden in kleinen Kreisen, etwa von Minister:innen der Bundesregierung, beschlossen. Die Parlamente würden zu wenig gehört und der Wille, eine breite Basis für die Entscheidungen einzubinden, bestehe zu wenig. Dies lasse sich im Begriff der „kernexekutiven Führerschaft“ zusammenfassen, welche zu einem Vertrauensverlust der Bevölkerung in die demokratischen Institutionen führe.

Folgt man Roland Roth, sei dies eine Erklärung für das Erstarken von Rechtspopulismus und -extremismus. Gleichzeitig zeige sich eine starke Zivilgesellschaft und viel demokratisches Potenzial, etwa mit Blick auf die großen Demonstrationen von Fridays for Future, die größte Jugendbewegung der Nachkriegszeit.

In dieser Gemengelage stellt Roth drei Formen der Demokratie heraus: Zum einen die etablierte Form der repräsentativen Demokratie, die sich vor allem auf Wahlen und Prozeduren beschränke und derzeit einen Vertrauensverlust erlebe. Dem gegenüber stehe die autoritär-populistische Variante, gegen die sich die derzeitigen Proteste wenden. Vor allem rechtspopulistische und -extreme Akteure stehen hier für ein Versprechen von direkter Demokratie ein, in welcher das „Volk“ gesehen werde. In der Realität werde dies allerdings nicht eingelöst. Roth plädiert dafür, dass die Zivilgesellschaft und Freiwilligenagenturen besonders die dritte Form vertreten: Ein breites Verständnis einer „Demokratie des Gehörtwerdens“. Engagement, Beteiligung, Diskussion und Mitgestaltung vor Ort seien hier besonders wichtig. Ein solches Demokratieverständnis ist laut Roland Roth allerdings noch nicht bis zur Bundesebene durchgedrungen.

Und die Zivilgesellschaft? Diese zeigt laut dem Demokratieforscher ebenfalls drei „Stoßrichtungen“ auf. In einer ersten Variante begreife sich die Zivilgesellschaft in einem „vorpolitischen“ Raum, abseits  von demokratischen Prozessen und Entscheidungen. Engagement finde hier etwa in einem klaren, abgesteckten Rahmen statt und begreife dezidiert als nicht-politisch. Außerdem gebe es, in einer zweiten Variante, auch eine rechtsgesinnte Zivilgesellschaft. Diese versuche in bestimmten Regionen, etwa im ländlichen Raum Ostdeutschlands, sich zunehmend in Vereinen und Strukturen zu etablieren. Sie sei autoritär gestimmt und per se nicht-demokratisch.

Engagement einer demokratischen Zivilgesellschaft, so lasse sich die dritte Stoßrichtung benennen. Diese partizipative Zivilgesellschaft biete Lösungen für Herausforderungen an und möchte gestalten. Ein wichtiges Merkmal der demokratischen Zivilgesellschaft sei laut dem Politikwissenschaftler die „Fähigkeit zur demokratischen Selbstkorrektur“. Zwar werde diese Form des zivilgesellschaftlichen Engagements bereits gefördert, es müsse aber stärker (finanziell) in den Blick genommen werden.

Die Entwicklung zu einer solchen Zivilgesellschaft zeige sich auch im aktuellen ZiviZ-Survey, auf den Roland Roth verweist. Hier heißt es:

  • „Es vollzieht sich ein Wandel in der Zivilgesellschaft von primär nach innen orientierten Mitgliedschaftsorganisationen hin zu Organisationen, die stärker auf gesellschaftliche Probleme vor Ort einwirken und über die Grenzen der Organisation hinaus Gesellschaft mitgestalten wollen.“

Mit Blick auf die derzeitigen Demonstrationen spricht Roland Roth von einer „Protestwelle“. Für eine demokratische Bewegung fehle derzeit noch die gemeinsame Vision, da sich der Protest in erster Linie gegen rechtsextreme Akteure richte. Trotzdem seien sie ein starkes Zeichen, besonders da der Protest deutschlandweit und generationenübergreifend stattfinde. Folgt man der Protestforschung, zeige sich hier trotzdem eher eine homogene Gruppe der linken Mitte. Roland Roth sieht bei den Demonstrationen einen großen Vertrauensverlust in die repräsentative Demokratie: Die Zivilgesellschaft werde hier gebraucht, da der Politik nicht zugetraut werde, gegen die rechtsextreme Bedrohungslage vorzugehen.

Zum Abschluss formulierte Roland Roth fünf Punkte als Empfehlungen an die Freiwilligenagenturen:

  • Eine lokale Demokratiebilanz ziehen: Gemeinsam in Netzwerken können lokale Bedarfe und Problemlagen erhoben werden: Wo liegen Stärken und Schwächen vor Ort? Wer muss eingebunden werden? Worauf kommt in unserer Kommune an? Diese Demokratiebilanz dient als Verständigung, wie man gemeinsam ins Handeln kommt.
  • Aktivitäten im Bereich Demokratieförderung umsetzen: Dies können niedrigschwellige Begegnungsorte oder die Einbindung von marginalisierten Gruppen in eine gemeinsame demokratische Praxis sein.
  • Vereine in den Blick nehmen: Eine Beratung von Vereinen zu Fragen von Demokratie sei ein wichtiges Format. Hier gehe es etwa darum, Sportvereine für mehr verschiedene Menschen zu öffnen und Demokratie im Kleinen zu leben.
  • Leuchttürme sichtbar machen und fördern: Es gebe viele gute Beispiele, die herausgestellt werden könnten, etwa das „Forum SCHWERengagierTE“ im westfälischen Schwerte. Auch digitale Entwicklungen lassen sich herausstellen.
  • Impulse aus der Protestbewegung aufnehmen: Die Netzwerke rund um die Demonstrationen lassen sich auch für weitere Kooperationen und Austausch nutzen.

Im Anschluss an den Input von Prof. Dr. Roland Roth füllten die Teilnehmenden ein Padlet aus. Hier wurden Eindrücke und Gedanken zu den Ausführungen festgehalten. Das Padlet ist hier zu finden.

Außerdem einige Eindrücke aus dem Chat:

  • „Demokratie ist mehr als Wahlen, es geht um ein vertrauensvolles, offenes Miteinander aller Menschen als Voraussetzung für Vertrauen in die freiheitlich-demokratische Grundordnung.“
  • „Ich glaube, es ist wichtiger denn je, Selbstwirksamkeitserfahrungen zu ermöglichen – sei es durch Proteste – Zahlen der AfD gehen runter – aber auch Engagement.“

Förderung, Positionierung und Unterstützung: Einblick in die (demokratische) Arbeit vor Ort

Wie sind die Freiwilligenagenturen und Landesarbeitsgemeinschaften (lagfas) bereits aktiv? Und welche Erfahrungen wurden bei den Protesten und in der Demokratieförderung bereits gesammelt? Mit dieser Frage blickte das Arbeitsforum auf die Arbeit von vier Kolleginnen vor Ort, die jeweils aus ihrer Praxis berichteten.

Christine Sattler

Die Bedeutung von Förderprogrammen im Bereich Demokratie stellte Christine Sattler, Leiterin der Freiwilligenagenture Halle-Saalkreis e.V., heraus. Mit der „Hallianz für Vielfalt“ ist die Freiwilligenagentur bereits seit 2007 im Programm „Demokratie Leben!“ aktiv. Für Freiwilligenagenturen gebe es viele Möglichkeiten Förderungen zu erhalten, so Sattler, etwa in den lokalen Programmen der „Partnerschaft für Demokratie“. In Halle habe man einen niedrigschwelligen Ort für Engagement von, für und mit Geflüchteten geschaffen, den „Welcome Treff“. Insgesamt sei die Freiwilligenagentur in einem starken Netzwerk verankert, dass seit Jahren gewachsen ist. Dies habe etwa Anfang des Jahres eine Demonstration mit 16.000 Menschen auf die Beine gestellt. Aus ihrer Erfahrung heraus erscheint es für die Demokratieförderung gewinnbringender, wenn Freiwilligenagenturen sich nicht gegen, sondern “für” etwas positionieren und den besonderen Wert von Engagement dabei herausstellen.

Und die Bedrohung durch Rechtsextremismus? Bisher sei man weniger mit Anfeindungen konfrontiert gewesen, habe aber für den bereits erwähnten Welcome-Treff ein Schutzkonzept mit Sicherheitsbehörden erarbeitet. Christine Sattler rät den Teilnehmenden, sich mit den lokalen Beratungsstellen zu vernetzen, die bei Anfeindungen konkret unterstützen könnten.

Wie mit rechtpopulistischen und -extremen Parteien in der eigenen Arbeit umgehen? Stefanie Lenz von der lagfa Brandenburg und der Agentur Ehrenamt Bernau und Ahrensfelde zeigte hier eine klare Haltung: Für ein geplantes Forum zu den anstehenden Wahlen in Brandenburg wurden nur Vertreter:innen von demokratischen Parteien eingeladen. Eine geplante Förderung in der „Partnerschaft für Demokratie” sei hierdurch allerdings gescheitert. Lenz plädiert trotzdem dafür, klar Position zu beziehen: Zum einen veröffentlichte die lagfa Brandenburg ein Bekenntnis zu Demokratie. Auf der Website der Freiwilligenagentur wurden außerdem mit dem Start der Proteste niedrigschwellige Möglichkeiten zum Mitmachen und Aktivwerden aufgezeigt. Laut Stefanie Lenz auch, um einem individuellen Ohnmachtsgefühl entgegenzuwirken.

Stefanie Lenz | Foto: Mechthild Rieffe
Andrea Brandt | Foto: Marlene Gawrisch

Auch die lagfa in Berlin veröffentlichte eine Stellungnahme, wie Andrea Brandt, lagfa Vorständin und Leiterin der Willma FreiwilligenAgentur Friedrichshain-Kreuzberg, berichtet. Diese zeigt auf, welchen Beitrag Engagement zur Demokratieförderung leistet und was es dafür braucht: Starke Freiwilligenagenturen. In der Bundeshauptstadt werde derzeit ein Demokratieförderschwerpunkt durch die Landesregierung umgesetzt.

Die Demonstrationen, etwa durch das „Hand in Hand“-Bündnis hätten gezeigt, dass viele Organisationen aktiv sein möchten. Das Bündnis sei nun vor allem damit beschäftigt, Kooperationen zu festigen und Initiativen deutschlandweit zu beraten, wie Andrea Brandt berichtet. Für sie sei es wichtig, dass auch die Freiwilligenagenturen sich klar positionieren und Engagement in allen Generationen fördern.

Im Interview zeigte sie außerdem Aktivitäten der Agentur in Friedrichshain-Kreuzberg auf. Man verfolge hier einen starken Gemeinwesensansatz, der verschiedene Themen im Sinne eines breiten Demokratieverständnisses aufgreife. Hierzu gehören Begegnungscafés beim Träger der Agentur, dem Nachbarschaftshaus Urbanstraße, Patenschaftsprogramme oder Aktivitäten in Bündnissen des Bezirks. Es sei wichtig, Themen aus dem Kiez vor Ort gemeinsam zu diskutieren – vor allem, da die politische Ebene oft zu langsam und weit entfernt sei.

Die Rolle von Freiwilligenagenturen in Bündnissen und Demonstrationen zeigte Lena Blum, Leitung der Freiwilligenagentur Bremen, auf: Besonders Einzelpersonen hätten in der Hansestadt die Initiative ergriffen, gegen Rechtsextremismus und für Demokratie auf die Straße zu gehen. Dies hätte auch Menschen mit wenig Demo-Erfahrung zu einer Teilnahme inspiriert, so Blum. Die Freiwilligenagentur war in dieser Initiative tätig, allerdings eher als Unterstützerin und Moderatorin: So wurden Räumlichkeiten und Infrastruktur zur Verfügung gestellt. Bis zur Europawahl im Juni plane die Agentur drei Demokratietage in einem zwischengenutzten Raum in der Bremer Innenstadt: Hier werden laut Lena Blum Demokratie-Workshops und Diskussionsformate stattfinden und Initiativen und Vereine ihre Arbeit vorstellen.

Als größte Herausforderung bezeichnet sie die Ressourcen: Vieles im Bereich Demokratie werde derzeit nebenher gestemmt, bis zu den Europawahlen und zur Bundestagwahl 2025 sei es aber noch viel zu tun. Außerdem sei es in der Bremer Stadtgesellschaft schwierig einen gemeinsamen Nenner zu finden und alle demokratischen Akteure, Parteien und Organisationen in der Bündnisarbeit zusammenzubringen.

Lena Blum | Foto: Marlene Gawrisch

Haltung zeigen: Aber wie genau?

Nach den vielen Inspirationen aus Forschung und Praxis stand eine Frage im Raum: Eine klare Haltung scheint notwendig, doch wie lässt sich diese zeigen? Was braucht es, um eine Positionierung nach außen zu tragen? Und was bedeutet eigentlich eine demokratische Freiwilligenagentur? Antworten auf diese Fragen diskutierten die Kolleg:innen in Kleingruppen, dabei füllten sie ein Padlet mit Gedanken, Ideen und Bedarfen aus. Mit einem Daumen nach oben konnten die Teilnehmenden anschließend Zustimmung zu den Beiträgen ausdrücken.

Ein Blick auf diese Notizen zeigt: Freiwilligenagenturen verstehen sich bereits als Ort von Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt: Sie ermöglichen Partizipation und Mitgestaltung für alle Menschen, die sich einbringen möchten. Außerdem sei es wichtig, (Meinungs-) Vielfalt, Offenheit, Demokratie und Mitgestaltung nach außen zu tragen. Auf große Zustimmung stößt die Aussage, dass Freiwilligenagenturen überparteilich, aber nicht unparteiisch sind: Eine klare politisch-demokratische Haltung abseits von Parteipolitik scheint zentral. Die Teilnehmenden sehen den Bedarf, einen Handlungsleifaden für den Umgang mit rechtsextremen Akteuren zu haben, auch ein Wertepapier als Grundlage für das eigene Handeln wäre hierfür hilfreich.

Die Ergebnisse der Kleingruppenarbeit sind hier als Download verfügbar.

Zur Erstellung eine “Wertepapiers” als Handreichung für das Thema freuen wir uns über Unterstützung. Sie haben Inputs, Statements, Stellungsnahmen oder Leitfäden aus der eigenen Arbeit vorliegen? Dann melden Sie sich gern unter bagfa@bagfa.de.