15.03.2022

Krieg in der Ukraine! Und jetzt? bagfa-Dialog-Forum mit Dr. Rupert Graf Strachwitz

Über Herausforderungen und Aktivitäten der Zivilgesellschaft hier wie dort

Krieg macht alles unberechenbar, er hüllt alles in Nebel: So lauten Einsichten über den Zustand, wenn militärische Gewalt losbricht. Klar ist, wir müssen Geflohenen aus der Ukraine Schutz bieten. Aber darüber hinaus bleiben viele Fragen, etwa wie Zivilgesellschaft und Engagement hier dazu beitragen kann, die Folgen des Krieges dort aufzufangen und weitere Gewalt zu verhindern.

Deshalb hat die bagfa eine Veranstaltungsreihe gestartet, die versucht, in dieser verstörenden Lage Orientierung und Übersicht zu bieten. Dabei soll auch reflektiert und debattiert werden, was aus dem Krieg selbst wie aus den Gegen- und Schutzmaßnahmen für die künftige Arbeit in der Zivilgesellschaft hier folgt.

Unser erster Gast war am 14. März Dr. Rupert Graf Strachwitz. Als Vorstand der Maecenata Stiftung und Direktor des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft ist er einer der bekanntesten deutschen Zivilgesellschaftsforscher, der auch über den Tellerrand schaut und sich auch in Zivilgesellschaften anderer Länder auskennt. Hier zunächst einige seiner Aussagen aus unserem Interview mit ihm, bevor wir einige Aspekte der Diskussion in Kleingruppen wiedergeben.

Zur ukrainischen Zivilgesellschaft:

Eine Besonderheit sei, dass sie stark zur Nationenbildung und zur Konsolidierung der ukrainischen nationalen Identität beiträgt – eine Rolle der Zivilgesellschaft, die für uns in westlichen Ländern kaum noch gegenwärtig sei. Entsprechend ausgebildet sei auch der Wille, das Land mit gewaltsamen Mitteln zu verteidigen. Eine Teilnehmerin weist hier allerdings auch auf eine Umfrage hin, wonach sich 2015 die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung für eine gewaltfreie Verteidigung ausspreche, statt zur Anwendung militärischer Mittel.

Zum bewaffneten Kampf der Zivilgesellschaft gegen Invasoren:

Für Deutschland würde er sagen: Dass die Zivilgesellschaft zu den Waffen greift und so hoheitliche Aufgaben des Staates übernimmt, gehört nicht zu ihrer Rolle. Aber in der Ukraine lägen nun mal andere Voraussetzungen vor. Und nicht nur dort: In vielen ehemaligen Staaten der Sowjetunion „brodle“ es, auch hier sei eine enorme Bereitschaft festzustellen, sich zu wehren. Als Zivilgesellschaft, die gewaltfreies Handeln gewohnt ist und als Norm ansetzt, müsse man hier zu eigenen, neuen Haltungen kommen. Welcher rasante Wandel sich hier vollzogen habe, sie daran abzulesen, dass die Unterstützung von Kriegshandlungen ein Skandal gewesen wäre – während es aktuell schon viel akzeptabler geworden scheint.

Zu Möglichkeiten der Unterstützung der Ukrainer:innen:

In der Regel bräuchte es gerade keine Kleiderspenden. Spenden direkt in die Ukraine seien aktuell noch möglich. Organisierte Profihilfe würde er eher unterstützen als sehr private Aktionen. Ansonsten schätzt Rupert Graf Strachwitz als sinnvoll ein, (finanziell) die Helfer:innen in den Nachbarländern zu unterstützen, in die jetzt die Menschen fliehen. Natürlich blieben auch Solidaritätsbekundungen wertvoll.

Zur Unterstützung der russischen Zivilgesellschaft:

Schwierig, da es für die Empfänger:innen der Unterstützung gefährlich sein kann, sie anzunehmen. Wenn bereits Anknüpfungspunkte bzw. Kontakte nach Russland bestünden, dann sollten am besten diese genutzt werden.

Zu den Auswirkungen des Kriegs und seinen Folgen auf Zivilgesellschaft und Engagement in Deutschland:

Der Begriff der Zivilgesellschaft werde sich, so oft wie er nun für die Ukraine gebraucht werde, auch in Deutschland stärker durchsetzen. Wir müssten uns fragen, wie wir unser Gemeinwesen stärker aufstellen, um gegen autokratische Strömungen gewappnet zu sein. Damit müsse sich die hiesige Zivilgesellschaft auseinandersetzen und positionieren: Welches Gesellschaftsmodell wollen wir haben?

Einsichten/Perspektiven aus den Kleingruppen:

20 Minuten lang konnten die Teilnehmenden in kleinen Gruppen diskutieren und eigene Themen setzen, entlang der folgenden Fragen: Was war wichtig für Sie? Welche Aussage hat Sie herausgefordert? Wo wollen Sie weiterdenken bzw. an was arbeiten? Welche offenen Fragen bleiben?

Um einige wenige Aspekte, die diskutiert wurden, hervorzuheben, hier Beispiele:

  • „Militarisierung der Zivilgesellschaft: Was ist hier zu erwarten? Überträgt sich diese Entwicklung auf andere europäische Länder?“
  • „Grenze Staat/Zivilgesellschaft: Im Völkerrecht wird zwischen Zivilbevölkerung und ‚Kombattanten‘ unterschieden. Wir unterscheiden grob die drei Sektoren Staat, Wirtschaft, Zivilgesellschaft. Wenn Gruppen den staatlichen Akteur Armee mit Waffenausstatten, zu welchem Sektor gehören sie?“ 
  • „Informationen als Basis für zivilgesellschaftliches Engagement: Wie viel wahrhafte Informationen braucht eine wehrhafte Zivilgesellschaft? Wer sichert die Vielfalt bei den Medien zu in Krisenzeiten?“
  • „Aufbau von Strukturen: Wie können wir verlässliche Strukturen schaffen, die sich immer wieder aktivieren lassen. Für Flutkatastrophen genauso wie für Flüchtlingskrise“
  • „Vermeidung einer Zwei-Klassen-Flüchtlings-Gesellschaft: Wichtig ist, gute und langfristige Strukturen zu schaffen, die sowohl eritreischen als auch ukrainischen Flüchtlingen zugutekommen“