25.05.2023

Ein sensibles Thema – Engagement in „sorgenden Gemeinschaften“: 55 Minuten mit Prof. Dr. Thomas Klie

Fünf Einsichten aus unserem Digital-Talk über das Engagement in der Senior:innen- und Pflegearbeit

Foto: Marc Doradzillo

Pflegenotstand, Fachkräftemangel und demografischer Wandel machen deutlich: Die Senioren- und Pflegearbeit steht vor verschiedenen Herausforderungen. Engagement in den sogenannten „sorgenden Gemeinschaften“ (caring communities) kann einen wertvollen Beitrag leisten, etwa in der Unterstützung von pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörigen im Alltag. Gleichzeitig stößt bürgerschaftliches Engagement in diesem Bereich an Grenzen – und muss schnell als Lückenfüller für staatliche Aufgaben der Daseinsvorsorge hinhalten.

Um diese Entwicklungen und Herausforderungen zu beleuchten, haben wir am 23. Mai 2023 Prof. Dr. Thomas Klie zum digitalen Gespräch eingeladen. Der Sozial- und Rechtswissenschaftler ist Experte im Bereich der Pflege, Gerontologie sowie Zivilgesellschafts- und Demokratieforschung. Regelmäßig nimmt er zu Fragen der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens, der Pflege und Teilhabe sowie zur Bedeutung der Zivilgesellschaft in den aktuellen Transformationsprozessen Stellung. Das Gespräch führte Beatrix Hertle, Landesgeschäftsführerin der lagfa Bayern.

Wir haben den Digital-Talk mit Prof. Dr Thomas Klie hier zum Nachhören auf unserem YouTube-Kanal zur Verfügung gestellt. Außerdem haben wir das Gespräch in fünf zentrale Perspektiven zusammengefasst, die das Engagement in der Pflege und der Seniorenarbeit beleuchten.

1. Sorgende Gemeinschaften richten sich auf das „gute Leben“ und „gelebte Demokratie“.

Thomas Klie beschreibt eine sorgende Gemeinschaft als ein „säkuläres Sorgeversprechen“. Angesichts einer gesellschaftlichen Transformation stellt sich im Zuge von solchen „Caring Communities“ die Frage, wie auch für vulnerable Zielgruppen Bedingungen für ein „gutes Leben“ und Solidarität geschaffen werden können.

Der Begriff sei eng verknüpft mit gelebter Demokratie vor Ort: Caring Communties sind laut Professor Klie auch das gemeinsame Ringen um faire Care-Bedingungen und dass es den Menschen im Nahbereich gut geht. Auch gehe es darum, Sorgefragen dem wirtschaftlichen Denken zu entziehen.

2. Ehrenamtliche spielen in der Pflege bisher eine kleine Rolle, können aber in Aushandlungsprozessen einen wichtigen Faktor darstellen.

Nach wie vor ist die Pflege in erster Linie eine Aufgabe von Angehörigen, Freund:innen oder der Nachbarschaft, wie der DAK-Pflegereport zeigt – auch Pflegedienste sind nur in 15 Prozent der Fälle involviert. Bisher spielen die Ehrenamtlichen in der Pflegearbeit eine vergleichsweise niedrige Rolle. Diese darf also nicht überschätzt werden. Laut Klie wird das meiste bisher informell geleistet – es brauche aber Aufmerksamkeit für Fragestellungen der Sorge und Pflege. Hier sollte der Diskurs auch von Seiten der organisierten Zivilgesellschaft angestoßen und geführt werden.

Die Strategie, im Zuge des Pflegenotstandes auf Ehrenamtliche zu setzen, wäre eine „militärische Lösung“, sagt Klie. Das bedeutet, dass Freiwillige nicht beliebig verteilt und eingesetzt werden können, um auf Not- und Krisensituationen zu reagieren. Dies zeige sich etwa in Bayern, wo Engagierte in der Geflüchtetenhilfe wegbrechen, da die Rahmenbedingungen für gutes Engagement nicht gegeben sind.    

Engagierte müssten vielmehr in ein Gesamtkonzept vor Ort, mit guten Rahmenbedingungen eingebunden werden. Welche Aufgaben sie übernehmen, hänge von ihren Erfahrungen, Orientierungen und Wünschen ab. Wichtig ist dabei festzuhalten: Menschen, die in der Vergangenheit bereits Erfahrungen in der Pflege sammelten, engagieren sich häufiger in diesem Bereich. Wenn diese Menschen für ein Engagement gewonnen werden könnten, wäre für die Herausforderungen in der Pflege schon einiges gewonnen, stellt der Experte fest.

3. Die Rolle von Engagierten in der Pflege muss stetig vor Ort ausgehandelt werden, im Zusammenspiel mit den Pflegefachkräften.

Welche konkreten Aufgaben Freiwillige in der Pflege übernehmen, hängt laut Thomas Klie von verschiedenen Faktoren ab. Die Grund- und Bedarfspflege müsse nicht allein bei den Pflegefachkräften liegen. Verantwortlichkeiten sollten hier aber klar geregelt sein: Die Entscheidung, welche Aufgaben von Freiwilligen übernommen werden sollten und könnten, liege beim Fachpersonal.

Schlussendlich wählen die Freiwilligen ihre Aufgaben selbst. Diese müssten klar ihre Grenzen benennen. Klie stellt heraus, dass die reine Pflegezeit minimal sei. Den Haushalt zu gestalten, Zugänge zur Öffentlichkeit oder Kultur zu schaffen und Präsenz zu zeigen, seien unter zeitlichen Gesichtspunkten deutlich aufwändiger. Der Aushandlungsprozess, welche Aufgabe von Fachkräften, Freiwilligen oder von pflegenden Angehörigen übernommen werden, müsse je nach Kontext mit allen beteiligten Personen geführt werden. Fragen der Pflege liegen bei der Fachkraft, individuelle Wünsche oder Vorlieben liegen aber bei der betreffenden Person im Zusammenspiel mit Engagierten, Nachbar:innen oder Angehörigen.

4. Die Monetarisierung von Engagement ist differenziert zu betrachten, braucht aber gute Rahmenbedingungen.

Die Monetarisierung von Engagement in sorgenden Gemeinschaften sieht Prof. Klie nicht grundsätzlich als problematisch an. Hier plädiert er für eine differenzierte Diskussion. Bezahlung im Ehrenamt dürfe nicht den Mindestlohn unterlaufen. Vielmehr schlägt er das Konzept einer „gemeinwohlorientierten Nebentätigkeit“ vor, in welcher Aufgaben, Qualifizierungen und Qualität der Tätigkeit klar benannt sind. Hier sind auch die Träger vor Ort gefragt, die Strukturen und Rahmenbedingungen für eine solche Nebentätigkeit zu schaffen. Einen Einblick in die Diskussion um das Thema Monetarisierung gibt der zweite Engagementbericht von 2017. Über das Konzept der „gemeinwohlorientierten Nebentätigkeiten“ gibt auch der Bericht der Sachverständigenkommission Aufschluss, der die Grundlage des Engagementberichts bildet.

Monetarisierung bestimmter Aufgaben könne auch Asymmetrien zwischen zu Pflegenden und Freiwilligen aufheben. Das fortlaufende Empfangen von Unterstützung kann, die Hilfebeziehung belasten. Geld wirke dem entgegen, da es eine klare Orientierung und Erwartungshaltung schaffe – anders als etwa Geschenke oder andere Formen der Anerkennung. Das Engagement könne sich dann in dem ausdrücken, was über die Monetarisierung hinaus der hilfesuchenden Person entgegengebracht wird. Dies kann etwa ein zusätzliches Zeitgeschenk sein.

5. Freiwilligenagenturen sollten die Selbsterfahrung fördern und Komplexität vermitteln.

Grundsätzlich sieht der Rechts- und Sozialwissenschaftler Freiwilligenagenturen als eine wichtige Institution an, um Engagement lokal eine Ordnung zu verleihen und die Attraktivität von freiwilligen Tätigkeiten zu steigern.

Außerdem sieht er eine Chance von Agenturen darin, jenseits einer marktwirtschaftlichen Logik, die gemeinsame Vorstellung einer zukunftsfähigen und solidarischen Gesellschaft zu vermitteln – und zwar auf einem demokratischen Pfad. Die Rollen von Freiwilligen in dieser Gesellschaft zu strukturieren, sei eine wichtige Aufgabe von Agenturen, auch um die Selbsterfahrung von Bürger:innen zu fördern – dabei sollten die Freiwilligenagenturen Komplexität vermitteln, anstatt simplifiziert und funktional auf das Ehrenamt zu schauen.