Von Digitalisierung, Diversität, neuem Selbstbewusstsein und informellem Engagement: Einsichten aus unserem Digitaltalk über die zentralen Ergebnissen des ZiviZ-Survey
Ein Blick in den aktuellen ZiviZ-Survey verrät: Zivilgesellschaft befindet sich in einem stetigen Wandel. Nicht nur verändern sich Engagementformen und -themen, auch die Organisationen entwickeln sich weiter, obwohl sie in Sachen Diversität und Digitalisierung Nachholbedarf haben. Außerdem haben sich Freiwilligenagenturen, Bürgerstiftungen und weitere Infrastruktureinrichtungen zu einem echten Eckpfeiler der Engagementförderung entwickelt. Zudem wird deutlich, dass die gesellschaftlichen Herausforderungen der letzten Jahre die organisierte Zivilgesellschaft prägen.
Gemeinsam mit Dr. Peter Schubert sprachen wir in unseren zweiten „55 Minuten“ des Jahres über zentrale Erkenntnisse der Studie, über die Zivilgesellschaft im Wandel und blickten auf verschiedene Rollen von Freiwilligenagenturen.
Schubert ist Senior Projektmanager bei ZiviZ im Stifterverband und einer von drei Autor:innen des Surveys. In dieser Kurzdokumentation haben wir sieben zentrale Einsichten aus dem Gespräch mit Dr. Peter Schubert festgehalten.
Der Digitaltalk ist hier zum Nachhören auf unserem YouTube-Kanal zu finden.
Die Präsentation mit dargestellten Ergebnissen aus dem ZiviZ-Survey ist hier verfügbar.
1. Die organisierte Zivilgesellschaft steht vor großen Herausforderungen: Um den Wandel gut zu bewältigen, bedarf es einer besseren finanziellen Ausstattung
Sowohl Krisen, wie etwa die Corona-Pandemie oder der Angriffskrieg gegen die Ukraine, als auch langfristig wirkende gesellschaftliche Entwicklungen hätten einen starken Einfluss auf zivilgesellschaftliche Organisationen, so Dr. Peter Schubert. Viele Organisationen setzten sich intensiv mit den damit verbundenen Herausforderungen auseinander und seien sehr aktiv, um sich zukunftstauglich zu machen. Die Studienbefunde zeigen, dass dies besonders Organisationen gelingt, die über größere materielle Ressourcen verfügen. Laut Schubert werden daher einige Organisationen den Wandel nicht mitgehen können. Dies lasse sich derzeit bereits an einem geringeren Nettozuwachs von Vereinen ablesen. Nach 20 Jahren, in denen die Zahl der Vereine stieg, scheint eine Sättigung erreicht zu sein.
2. Gemeinsam stark: Fusionen von zivilgesellschaftlichen Organisationen können zur Bündelung von Ressourcen führen
Schubert betont, dass besonders die Nachwuchsgewinnung für ehrenamtliche Positionen in Organisationen eine Herausforderung sei. Daher könnte es in Zukunft zu einer stärkeren Diskussion über Fusionen von zivilgesellschaftlichen Organisationen kommen.
Gerade der Anteil der bezahlten Beschäftigten sei nicht gewachsen und liegt gleichbleibend bei unter 30 Prozent. Ein Zuwachs an hauptamtlichen Mitarbeitenden erfolge in erster Linie bei großen Organisationen, die sowieso schon hauptamtliche Beschäftigte anstellen. Aktuelle Prognosen gehen von 3,7 Millionen Beschäftigten in der Zivilgesellschaft aus – diese seien aber bei weitem nicht über die gesamte Breite der Organisationslandschaft verteilt. Das sogenannte „Pooling“ von Ressourcen, etwa durch Fusionen von Organisationen, könne unter Umständen dazu führen, dass in einigen Bereiche zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden.
3. Den Weg der Digitalisierung weitergehen: Erste Schritte müssen stärker für die Organisationsentwicklung genutzt werden
Aus dem Survey werde deutlich, dass viele Organisationen im Bereich der Digitalisierung deutliche Fortschritte gemacht haben – beispielsweise bei der Mitgliederkommunikation oder bei der Ansprache und Gewinnung neuer Zielgruppen. Auf die Frage nach dem Mehrwert des digitalen Arbeitens für die Organisation selbst – sei es bei der Gewinnung junger Menschen oder der Einbindung ortsunabhängiger Engagierter – ergibt sich unter den Befragten, laut Peter Schubert, jedoch ein geteiltes Stimmungsbild. Hier scheine noch Überzeugungshilfe und vor allem die Vermittlung von Know-How nötig zu sein. Vor allem, um aufzuzeigen, wie man mit den bisherigen digitalen Fortschritten die eigene Organisation voranbringen könne.
4. Ein neues Selbstbewusstsein: Zivilgesellschaftliche Organisationen möchten Impulse setzen und kollaborativ zusammenarbeiten
Im Vergleich zu früheren Erhebungen verschiebt sich laut Schubert die Erwartungshaltung der zivilgesellschaftlichen Organisationen gegenüber dem Staat. Mehr Organisationen – vor allem im Gesundheits- und Bildungsbereich – sehen sich als kollaborativer Partnerin oder als Lückenbüßerin für Aufgaben, die eigentlich in staatlicher Verantwortung lägen. Laut dem Survey-Autor betonen die zivilgesellschaftlichen Organisationen zunehmend den öffentlichen Charakter ihrer erbrachten Leistungen und stellen nun verstärkt Anforderungen an eine staatliche Finanzierung.
Damit einher gehe ein neues Selbstverständnis der Organisationen: Diese verstünden sich immer weniger als klassische Mitgliederorganisationen, die in erster Linie die Interessen ihrer Mitglieder im Blick haben, sondern wollen verstärkt gesellschaftliche Impulse setzen und an politischen Prozessen teilnehmen. Damit seien zivilgesellschaftliche Organisationen ein Vehikel für das veränderte Engagementverhalten in der Bevölkerung: Die Menschen engagieren sich weniger aus Gründen der Geselligkeit, sondern weil sie etwas bewegen möchten, wie Dr. Schubert betont.
5. Nachholbedarf in Sachen Diversität: Gesellschaftliche Vielfalt bildet sich innerhalb der zivilgesellschaftlichen Organisationen noch zu wenig ab
Die meisten Organisationen sind bezüglich Alter, kultureller und sozialer Prägung (Bildung, Einkommen) nach wie vor recht homogen aufgestellt, wie der ZiviZ-Survey zeigt. Die Erzählung von der Zivilgesellschaft als Ort der Integration müsse für Schubert angesichts der Zahlen stärker hinterfragt werden. Dabei gibt es Unterschiede zwischen dem urbanen und ländlichen Raum: Zivilgesellschaftliche Organisationen im städtischen Umfeld sind mit Blick auf die Zahlen kulturell vielfältiger aufgestellt, Organisationen auf dem Land spiegeln eine stärkere soziale Vielfalt wider. Folgt man Peter Schubert, ist der ländliche Raum dabei ein zentraler Lernort für junge Engagierte. Gerade im Bereich von Sportvereinen und freiwilligen Feuerwehren – die im ländlichen Raum stärker präsent sind – üben sich junge Menschen bereits frühzeitig an der Verantwortungsübernahme in Organisationen. Die städtischen und ländlichen Räume könnten hier beim Ausbau der jeweils unterrepräsentierten Vielfaltsdimension viel voneinander lernen.
6. Freiwilligenagenturen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen: Zahlen zur Zusammenarbeit mit engagementfördernden Infrastruktureinrichtungen
Rund ein Viertel der befragten Organisationen arbeitet bereits mit engagementfördernden Infrastruktureinrichtungen zusammen – 9 Prozent nennen hierbei explizit Freiwilligenagenturen, wie aus dem Survey hervorgeht. Schubert erläutert: Auf die Gesamtzahl der zivilgesellschaftlichen Organisationen hochgerechnet, arbeitet die beachtliche Zahl von 50.000 bis 60.000 Organisationen mit Freiwilligenagenturen zusammen – am häufigsten aus den Bereichen Soziale Dienste und Gesundheit.
Die Zahlen zeigten auch, dass die Zusammenarbeit stark mit der Raumstruktur und der damit verbundenen Nähe zu einer Freiwilligenagentur zusammenhängt: Organisationen im städtischen Umfeld arbeiten laut Peter Schubert häufiger mit Freiwilligenagenturen zusammen als die im ländlichen Raum, in deren unmittelbarer Nähe sich etwa keine Agentur befindet.
7. Informelles Engagement ist auf dem Vormarsch und eine gleichwertige Form der zivilgesellschaftlichen Teilhabe
Informelles Engagement wächst: Die Zahl der Freiwilligen in informellen Strukturen hat sich in den letzten 20 Jahren nahezu verdoppelt – von 10,3 Prozent im Jahr 1999 auf 17,2 Prozent im Jahr 2019. Im ZiviZ-Survey zeigt sich zudem, dass immer mehr Engagierte gar keine formale Mitgliedschaft in ihrer Organisation aufweisen.
Mit Blick auf das Diskussionspapier zu informellem Engagement entkräftet Dr. Peter Schubert bestehende Bedenken, dass es sich bei informellen Tätigkeiten um unverbindliches „Engagement light“ handelt. Zahlreiche Indikatoren verdeutlichen, dass es eine gleichwertige Form der zivilgesellschaftlichen Partizipation sei: Denn informelles Engagement sei weder ein exklusives Terrain junger Menschen, noch ist es nur in städtischen Räumen vorzufinden. Auch investieren informell Engagierte laut Schubert im Schnitt sogar mehr Zeit als solche in Vereinen.
Folgende Publikationen empfehlen wir als weitere Lektüre:
- Ziviz-Survey „Zivilgesellschaftliche Organisationen im Wandel. Gestaltungspotenziale erkennen. Resilienz und Vielfalt stärken“ | Verfügbar hier
- ZiviZ-Diskussionspapier “Informelles Engagement: Die neue Normalität?” von Dr. Peter Schubert | Verfügbar hier
- Freiwilligenagenturen in Deutschland Die Befunde der dritten quantitativen Wiederholungsbefragung | Verfügbar hier
- Studie “nicht kleinzukrisen!” vom betterplace lab | Verfügbar hier