28.05.2024

Durch gesellschaftliche Vielfalt das Grundgesetz mit Leben füllen: 55 Minuten mit Dr. D. Deniz Nergiz

Über Demokratie, Vielfalt und 75 Jahre Grundgesetz: Einsichten aus unserem Digitaltalk am 23. Mai 2024

Ein Grund zum Feiern, aber auch zum Innehalten und Reflektieren: Vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Es regelt unser demokratisches Zusammenleben, sorgt für Rechtsstaatlichkeit und beinhaltet 19 Grundrechte. Schon damals wussten die vielen Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes also worauf es ankommt.

Schließlich mahnt es im ersten Artikel, „die Würde des Menschen ist unantastbar“. Gleich im Dritten wird dann klar gemacht, dass dieser Grundsatz für alle Menschen gilt – was die rechtliche Gleichberechtigung regelt und sich als Verteidigung von Vielfalt verstehen lässt.

Grund genug also, zu diesem besonderen Tag in die Diskussion und Reflexion über das Grundgesetz einzusteigen. In unserem Digitaltalk „55 Minuten“ sprachen wir daher mit der Soziologin und Politologin Dr. D. Deniz Nergiz: Was macht unsere Demokratie aus? Welche Rolle spielen das Grundgesetz und Vielfalt dabei? Und wie wichtig ist Engagement hierfür?

Der Digitaltalk ist hier zum Nachhören auf unserem YouTube-Kanal zu finden.

Zentrale Einsichten des spannenden Digitaltalks mit Dr. D. Deniz Nergiz haben wir in dieser Kurzdokumentation festgehalten.

1. „Success is never final“ – Demokratie zeichnet sich nicht nur durch eine gewählte Regierung aus, sondern lebt von gemeinsamen Erfahrungen und Miteinander.

Wenn wir heute über Demokratie sprechen, stünden meist die Regierungsform und Wahlen im Vordergrund, so Dr. Nergiz. Demokratie habe aber viele Abstufungen und Merkmale: Gibt es wiederkehrende und freie, faire Wahlen? Ist eine starke Opposition vorhanden? Auch lohne sich ein Blick über den Tellerrand, denn nicht jeder Staat, der sich demokratisch nennt, sei dies auch. Laut Nergiz ist eine demokratische Gesellschaft enorm wichtig, in der ein Miteinander gelebt wird. Unsere (Grund-)Rechte, aber auch formelle und informelle Praktiken und eine institutionelle Absicherung, bilden hier eine wichtige Grundlage für eine demokratische Gesellschaftsnorm.

Mit Blick auf das Grundgesetz betont Dr. Nergiz, dass es ein knapper und präziser Gesetzestext sei. Dieser müsse mit Leben gefüllt werden. „Success is never final“, sagt sie. Zwar habe sich das Grundgesetz in 75 Jahren als dynamisch und gleichzeitig erwiesen, trotzdem gehe es darum, gemeinsame Erfahrungen mit der Demokratie zu sammeln. Auch über Lücken in unserer Verfassung müsse gesprochen werden, etwa wenn es um Teilhabe gehe.

2. Die Grundlagen für eine vielfältige Demokratie sind gegeben, diese braucht aber Teilhabe von allen Menschen der Gesellschaft.

Durch das Grundgesetz habe jede:r Staatsbürger:in grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten, die demokratischen Rechte wahrzunehmen. Das Grundgesetz gebe hierfür, gemeinsam mit weiteren Gesetzesbüchern und Landesverfassungen, einen Rahmen, so Dr. Deniz Nergiz. Dies schlage sich aber nicht zwangsläufig in der Repräsentation nieder. So finden sich an Punkten, an denen Gestaltung möglich ist, nach wie vor zu wenige Menschen mit Migrationshintergrund, Fluchterfahrung, Behinderungen oder Frauen. Dies heißt laut der Politologin aber nicht, dass unsere Demokratie nicht vielfältig sei. Es gebe eine Diskussions- und Meinungsvielfalt sowie eine gesetzliche Grundlage zur Gleichberechtigung. Eine vielfältige Demokratie im politischen Sinne sei so gegeben.

Trotzdem ist es laut Nergiz wichtig, dass gesellschaftliche Vielfalt sich in den demokratischen Erfahrungen niederschlage. Vielfalt stärke die Qualität und Legitimität von Demokratie – Teilhabe sei hier ein wichtiger Begriff: Diese umfasse Verantwortung für die Gesellschaft, schaffe Begegnung und gebe Erfahrungen einen Raum. Ohne eine umfassende Teilhabe würden relevante Themen und Perspektiven spezifischer gesellschaftlicher Gruppen in der Demokratie keinen Platz finden.

3. Engagement kann gesellschaftliche Vielfalt in die Demokratie tragen und dadurch stärken.

Engagement stelle hier einen wichtigen Ort dar. Es schaffe Möglichkeiten für gesellschaftlich benachteiligte Menschen und sensibilisiere engagierte Menschen für andere Problemlagen und Lebensweisen. Durch Engagement würden Erfahrungswerte geteilt, weitergegeben, ausgetauscht und Chancen geschaffen, betont Dr. D. Deniz Nergiz.

Damit bilde freiwilliges Engagement einen wichtigen Ort der Mitwirkung, der auch Missstände und politische Leerstellen sichtbar machen kann. Die wertvollen Erfahrungen, die in einem Engagement gesammelt werden, könnten auf lange Sicht auch ihren Weg in die Parlamente finden und zukünftige politische Entscheidungen beeinflussen. Somit stärke freiwilliges und bürgerschaftliches Engagement auch Demokratie, wie Nergiz ausführt.

4. Vielfältiges Engagement braucht gute Rahmenbedingungen, Strukturen, Reflexion und Räume.

Doch wie ermöglichen wir in einer vielfältigen Gesellschaft überhaupt Engagement? Die Antwort auf diese Frage fasst die Vielfaltsexpertin in „5 Rs“ zusammen. Diese umfassen Ressourcen, Reichweite, Reflexion, Resignation und Räume.

Laut Nergiz bilden Ressourcen eine wichtige Grundlage, um ein Engagement zu ermöglichen: Etwa indem engagementfördernde Strukturen nachhaltig finanziert werden. Außerdem müsste die Reichweite an vielfältige Zielgruppen angepasst und entsprechend erweitert werden. Eine vielfältige Organisationsstruktur sei hier wichtig, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Mit einer fortlaufenden Reflexion der eigenen Position könne sichergestellt werden, den verschiedenen Zielgruppen auf Augenhöhe zu begegnen. Um Frustration und einer Abkehr vom Engagement, also Resignation, entgegenzuwirken, sei es wichtig, Überforderung sowie Hass oder Hetze entgegenzuwirken. Nicht zuletzt müssten Räume rückerobert (reclaimed) werden, wo Austausch stattfinden und Erfahrungen gesammelt werden können. Laut Nergiz sollten wir hier antidemokratischen Akteuren, beispielsweise im ländlichen Raum, aber auch überall sonst, nicht das Feld überlassen. Abschließend betont die Demokratieexpertin, wie wichtig Anerkennung und Wertschätzung von Engagement seien.

5. Engagement ist ein Zeitgeschenk an unsere Demokratie und das Grundgesetz.

Dr. D. Deniz Nergiz plädierte im Digitaltalk dafür, Engagement oder Ehrenamt in das Grundgesetz aufzunehmen. Damit würde Engagement einen hohen politischen Wert erlangen. Denn es sei klar: Durch Engagement finde Austausch zwischen Menschen, mit ihren Problemen, Erfahrungen und Perspektiven statt, es zeige „wo der Schuh drückt“. Damit ist, laut Nergiz, Engagement ein wichtiger Gradmesser für Demokratie. Nicht zuletzt ist es damit ein wichtiges Zeitgeschenk an das Grundgesetz, denn Engagement verhelfe dazu, unsere Verfassung mit Leben zu füllen.