Fünf Einsichten aus unserem Digital-Talk über die Folgen des russischen Angriffskrieges für die Zivilgesellschaften
Schon seit über einem Jahr nimmt das Grauen des Krieges in der Ukraine seinen Lauf. Nicht nur möchte Putin, wie viele Beobachter:innen sagen, mit dem Krieg die Ukraine zerstören, der Angriff gilt auch den freien Zivilgesellschaften, die in dem Denken von Putin nicht vorgesehen sind. Doch die Zivilgesellschaften widersetzen sich, nicht nur in der Ukraine. Sie versuchen Not zu lindern und Solidarität zu leben.
Einen Blick auf Engagement im Angesicht des Krieges und die Zivilgesellschaften in der Ukraine, Russland und Deutschland warfen wir am 16. März 2023 im Gespräch mit Annegret Wulff. Sie ist Vorständin von MitOst e.V. und arbeitet seit 2001 für diese unabhängige, gemeinnützige Nichtregierungsorganisation, die aktive Bürger:innen in einem offenen und vielfältigen Netzwerk aus über 40 Ländern in Europa und seinen Nachbarregionen vernetzt.
Annegret Wulff stellte dabei deutlich heraus: Während die (Zivil-)Gesellschaft in der Ukraine im Krieg Stärke zeigt und zusammenhält, ist eine kritische Zivilgesellschaft in Russland kaum mehr existent. In Deutschland zeige sich weiterhin Solidarität, aber auch Veränderung im Engagement zur Unterstützung von Ukrainer:innen.
Wir stellen eine Audioaufzeichnung des Gesprächs zur Verfügung. Hier können Sie den Mitschnitt auf YouTube anhören. Außerdem haben wir fünf zentrale Perspektiven zusammengefasst, die Engagement und Zivilgesellschaft im Angesicht des Krieges in der Ukraine beleuchten.
1. Die Ukraine hatte eine starke Zivilgesellschaft – jetzt ist diese zusätzlich erstarkt.
Das Ausmaß des Krieges, die Zerstörung und die Flucht von unzähligen Ukrainer:innen waren ein regelrechter Schock. Die Solidarität innerhalb der Ukraine ist aber auch nach einem Jahr Krieg unvermindert. Auch wenn es abwegig klingen mag, so Annegret Wulff: Die ukrainische Zivilgesellschaft wurde durch den Angriffskrieg gestärkt und steht fest zusammen. Damit hat Putin ein zentrales Ziel, die Zersetzung der Ukraine und Desintegration der Gesellschaft, klar verfehlt. Die Ukrainer:innen greifen dabei auch auf Erfahrungen aus den Protesten der „Orangenen Revolution“ 2004 und auf dem „Euro-Maidan“ 2014 zurück.
Alle Teile der ukrainischen Gesellschaft sind auf den Krieg fokussiert. Auch abseits des Militärs versuchen Ukrainer:innen, sei es durch Kunst, Kultur oder Zivilschutz, ihren Teil zur Verteidigung des Landes beizutragen und der Bevölkerung zu helfen. Auch die sozialen Aufgaben im Land sind auf den Krieg ausgerichtet, berichtet Annegret Wulff: So werden beispielsweise Kultur- und Bildungsangebote in Luftschutzkellern organisiert, um das Leid der Bevölkerung zu lindern. Der Fokus auf das Militär bringt aber auch Einschnitte mit sich, etwa in der Gesundheitsversorgung.
2. Die kritische Zivilgesellschaft ist in Russland extrem geschwächt. Statt Opposition und Protest gegen den Krieg herrscht Resignation.
Die systematische Schwächung der russischen Zivilgesellschaft trage Früchte, schätzt die Gesprächspartnerin ein. Viele Jahre der Repression und Propaganda durch das russische Regime führten dazu, dass eine kritische Zivilgesellschaft und Opposition in Russland kaum mehr existent sind. Anzeichen für Proteste oder Aufstände gegen den Krieg sind nicht zu sehen. Kritiker:innen des Regimes und Krieges sind entweder im Gefängnis, haben das Land verlassen oder sich aus der Zivilgesellschaft zurückgezogen.
Schon vor dem Krieg wurde die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen erheblich erschwert und z.B durch das sogenannte „Agenten-Gesetz“ kaum möglich. Große Teile einer verbliebenden kritischen Zivilgesellschaft haben den Krieg gegen die Ukraine als Kipppunkt wahrgenommen und das Land daraufhin verlassen.
Deutlich wird außerdem, dass eine Stärkung der russischen Zivilgesellschaft von außen, etwa durch die Arbeit von internationalen Organisationen, kaum möglich ist. Vielmehr sollten russische Akteure im Exil und Ausland gestärkt und unterstützt werden.
3. Die Solidarität in Deutschland ist ungebrochen – langfristiges Engagement braucht aber nachhaltige Unterstützungsstrukturen.
In Deutschland, so findet Annegret Wulff, lässt sich keine Abnahme der Hilfsbereitschaft gegenüber der Ukraine und geflüchtete Menschen aus dem Kriegsgebiet erkennen. Auch nach einem Jahr Krieg engagieren sich viele Menschen, ihr Engagement zeigt allerdings Veränderungen: Wurden anfangs Transporte mit Sachspenden organisiert und spontane Hilfe an Bahnhöfen geleistet, werden Ukrainer:innen zunehmend bei der Suche nach einer Wohnung oder in der Schule unterstützt.
Da akutes und spontanes Engagement von Einzelnen nur über einen begrenzten Zeitraum möglich ist, sind nun etablierte Organisationen und die Politik gefragt. Die große Solidarität von vielen Freiwilligen muss sich hierbei in nachhaltige Unterstützungsstrukturen wandeln. Etwa wenn es um die mittel- und langfristige Unterbringung von geflüchteten Menschen geht.
Für eine langfristige Unterstützung in Deutschland, durch Organisationen, Gemeinde und Zivilgesellschaft braucht es nun einen langen Atem, um die Herausforderungen und Folgen des Krieges in der Ukraine anzugehen.
4. Die ukrainische Zivilgesellschaft muss für den zukünftigen Wiederaufbau des Landes unterstützt werden, um Demokratie und Beteiligung zu fördern.
Schon jetzt werden Perspektiven für eine Zeit nach dem Krieg in den Blick genommen. Der Wiederaufbau des Landes wird angesichts der Zerstörung eine große Herausforderung für die Ukraine. Hier gilt es, die Rolle von zivilgesellschaftlichen Akteuren im Prozess des Wiederaufbaus zu stärken. Da vermutlich große finanzielle Mittel zur Verfügung stehen werden, sind demokratische Instrumente der Beteiligung, moderiert von der Zivilgesellschaft, sehr wichtig – auch um Korruption vorzubeugen.
Ein Instrument können Partnerschaften zwischen deutschen und ukrainischen Städten sein, um direkte Unterstützung zu leisten und Vertrauen durch Partnerschaft, auch für ausländische Investitionen, zu schaffen.
5. Gemeinsame Zeit, Kontakt mit Mitmenschen und Unterstützung sind für geflüchtete Menschen aus der Ukraine weiterhin gefragt – Freiwillige können hier gezielt helfen.
Nach wie vor ist das Engagement von Freiwilligen gefragt – Sach- wie Zeitspenden. Viele geflüchtete Menschen aus der Ukraine befinden sich in einer Situation der „Zwischenzeit“. Die Erfahrungen aus dem Krieg und die tägliche Konfrontation mit Berichten aus der Ukraine belasten die Geflüchteten. Viele Ukrainer:innen möchten auch in ihr Heimatland zurückkehren. Hier könne Engagierte Leid lindern, indem sie Kontakte mit Geflüchteten aufbauen, gemeinsame Freizeit verbringen und sie so unterstützten.
Wichtig ist, dass Solidarität weiterhin gelebt wird: Der Angriff auf die Ukraine muss auf der Agenda bleiben. Er verursacht Not und Leid, aber greift auch das an, an was Zivilgesellschaften glauben: Freiheit und Demokratie.