30.03.2023

„Einsamkeiten vermeiden, mildern, aushalten – noch eine Aufgabe für Freiwilligenagenturen?“ – Kurzdokumentation zum bagfa-Arbeitsforum

„Ah, look at all the lonely people”

Aus dem Refrain von “Eleanor Rigby” von The Beatles

Bereits im Jahr 1966 blickte die Liverpooler Band in ihrem Song Eleanor Rigby auf das Thema Einsamkeit. Fast 60 Jahre später ist das Thema immer noch präsent: Nicht zuletzt die Corona-Pandemie brachte Einsamkeit zurück auf die Agenda.

Im Arbeitsforum „Einsamkeiten vermeiden, mildern, aushalten – noch eine Aufgabe für Freiwilligenagenturen?“ näherten sich die bagfa und Vertreter:innen von über 30 Freiwilligenagenturen am 28. März 2023 der komplexen Thematik an. Durch angeregte Diskussion und wissenschaftlichen Input verorteten die Teilnehmenden die Rolle von Freiwilligenagenturen im Thema Einsamkeit und tauschten sich über mögliche Aufgaben von Agenturen aus.

Vorausgegangen war dem Arbeitsforum ein Digitaltalk mit Prof. Dr. Susanne Bücker über Einsamkeit und Engagement am 20. Februar 2023. Das große Interesse an dem Gespräch verdeutlichte hierbei die Relevanz des Themas für die Freiwilligenagenturen. Ein Audiomitschnitt der 55 Minuten ist hier zu finden.

Im Gespräch mit Claudia Neu: Wie Einsamkeit die Demokratie gefährdet

Zum Einstieg des Arbeitsforums führte Bernd Schüler von der bagfa ein Impulsgespräch mit Prof. Dr. Claudia Neu. Sie ist Inhaberin des Lehrstuhls „Soziologie ländlicher Räume“ an den Universitäten Göttingen und Kassel und war an der Studie „Extrem einsam? – Die demokratische Relevanz von Einsamkeitserfahrungen unter Jugendlichen in Deutschland“ beteiligt, die kürzlich erschienen ist.

Prof. Dr. Claudia Neu
© Benjamin Jenak

Einsamkeit ist kein neues Phänomen erläutert die Soziologin. Menschen haben sich zu allen Zeiten (gelegentlich, manchmal auch über lange Zeit) einsam gefühlt. Womöglich waren Menschen früher eher innerhalb ihrer Beziehungen einsam, wie auch der Kassler Soziologe Janosch Schobin vermutet. Denn die festen Beziehungsregeln, religiösen Werte und traditionellen Lebensformen ließen nur wenig Spielraum für persönliche Freiheiten. So gibt es auch keine Hinweise darauf, dass Einsamkeit in der (Post-)Moderne sprunghaft angestiegen wäre, sieht man einmal von der Zeit der Corona-Pandemie ab. Vielmehr ermöglicht die erhöhte Wahlfreiheit eher die Realisierung von erfüllten Partnerschaften, lockeren Bekanntschaften und engen Freundeskreisen. Allerdings auch um den Preis einer schnelleren Aufkündbarkeit – wenn es nicht mehr passt. Emotionale Einsamkeit heute bedeutet eben eine intime Beziehung oder enge Freundschaft zu vermissen.

Einsamkeit ist nicht ausschließlich eine Herausforderung für eine einzelne Person, sondern auch für die Demokratie. Wie die oben genannte Studie unter Jugendlichen in Deutschland zeigt, lässt sich ein Zusammenhang zwischen Einsamkeit und autoritären Einstellungen erkennen. Zu diesen gehören etwa Verschwörungsglaube, Billigung von Gewalt oder antidemokratische Tendenzen.

Neu empfiehlt in ihrem abschließenden Statement den Fokus in der Einsamkeitsprävention und Intervention mehr auf die junge Generation zu lenken, die besonders unter den Folgen der Coronapandemie gelitten hat. Zudem ist Einsamkeit keineswegs ein Problem älterer Jahrgänge, vielmehr erleben gerade junge Erwachsene häufiger Einsamkeitsepisoden, bei Senior/innen steigt das Einsamkeitsrisiko erst ab dem 80-Lebensjahr deutlich an, wie die Forscherinnen Hawkley und Luhmann 2016 zeigen konnten. Gerade die Jahre nach der Verrentung sind für viele ältere Menschen eine Zeit, die besonders wenig von Einsamkeit geprägt ist. Zudem konnte die Studie „Extrem einsam?“ zeigen, dass wir es mit einer erschöpften Jugend zu tun haben, die sich von der Politik alleingelassen fühlt und droht das Vertrauen in die Demokratie zu verlieren. Hier gilt es aufmerksam für das demokratiezersetzende Potential der Einsamkeit zu sein und Jugendliche stärker in den Fokus der Freiwilligenarbeit zu nehmen.

Die Studie „Extrem einsam? Die demokratische Relevanz von Einsamkeitserfahrungen unter Jugendlichen in Deutschland“ des Progressiven Zentrums mit Prof. Dr. Claudia Neu, Prof. Dr. Beate Küpper und Prof. Dr. Maike Luhmann steht hier zum Download bereit.

Freiwilligenagenturen und Einsamkeit: Ständige Begleiterin oder neue Aufgabe?

Zur Bestandsaufnahme wurden die Kolleg:innen nach ihrer Einschätzung befragt: Fühlen sich die Freiwilligenagenturen für das Thema Einsamkeit zuständig? Über die Hälfte der Teilnehmenden sieht eine Verantwortung für den Themenkomplex, aber auch Unentschiedenheit wird deutlich.

So zeigte sich eine generelle Sensibilisierung und Verantwortung für das Thema, gleichzeitig wurden auch verschiedene Rollenvorstellungen von Freiwilligenagenturen sichtbar, die in dem weiteren Arbeitsforum geschärft und gesammelt wurden – durch Austausch in Kleingruppen, Diskussionen im Plenum und Beiträgen bei digitalen Tools wie Padlet oder Menti-Meter.

Was bedeutet Einsamkeit für Freiwilligenagenturen und welche Rollen können diese im Kontext von Einsamkeit einnehmen? Zentrale Aspekte der gemeinsamen Arbeit an diesen Fragen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

  • Einsamkeit zeigt sich als gesellschaftliches Querschnittsthema und begegnet den Freiwilligenagenturen bereits an vielen Stellen.
  • Engagement hat eine präventive Wirkung und stellt ein wichtiges Angebot für einsame Menschen dar. Es ermöglicht Teilhabe und stellt die Aktivität, nicht persönliche Problemlagen, in den Vordergrund.
  • Freiwilligenagenturen sind somit ein Baustein gegen Einsamkeit – besonders durch die vermittelnde Funktion als „Türöffner“, die eng am Menschen stattfindet.
  • Um den präventiven Charakter von Engagement zu nutzen, müssen die betreffenden Zielgruppen erreicht werden. Hierfür sollte die Niedrigschwelligkeit von Angeboten und Projekten der Freiwilligenagenturen geprüft werden.
  • Freiwilligenagenturen können Räume und Gelegenheiten zum Engagement, zur Begegnung und Teilhabe schaffen, sofern die nötigen Strukturen und Ressourcen vorhanden sind.
  • Bezogen auf die These von Claudia Neu, in erster Linie Jugendliche im Kontext von Einsamkeit in den Fokus zu nehmen, zeigten sich unterschiedliche Meinungen. Es wurde in den Raum gestellt, dass es sich sowohl bei jungen und älteren einsamen Menschen um abgehängte Zielgruppen handele, die beide erreicht werden sollten.

Pro und Contra – noch eine Aufgabe für Freiwilligenagenturen?

Stellt Einsamkeit nun noch eine weitere Aufgabe für Freiwilligenagenturen dar? In einer Pro-Contra Diskussion nahmen die Teilnehmenden mit einem deutlichen „Jein“ Stellung.

In Hinblick auf die präventive Wirkung von Engagement gegen Einsamkeit zeigt sich, dass die Agenturen bereits in diesem Kontext und in dieser Richtung tätig sind. Es brauche kein neues „Label“, da Begegnung eine grundlegende Motivation von Freiwilligen darstellt. Und wer durch seinen:ihren Einsatz ein „Thema hat“ und insofern sinnhaft handeln kann, würde auch weniger dem Gram der Einsamkeit verfallen. Allerdings müssten Kapazitätsgrenzen in den Agenturen beachtet werden, wenn es um die Begleitung chronisch einsamer Menschen geht, die über ihr Los womöglich auch kompliziert geworden sind.

Weiterhin können Agenturen zur Sensibilisierung des Themenbereichs beitragen, etwa gegenüber kooperierenden Organisationen. In der Öffentlichkeit und gegenüber politischen Entscheidungsträger:innen können die positiven Effekte von Engagement gegenüber Einsamkeit und bestehende Projekte stärker herausgestellt werden. Also mehr sichtbar machen, was Engagement und Freiwilligenagenturen bei der Vorbeugung und Bekämpfung schon bewirken.