21.02.2019

Thementag „Einsatzstelle(n) Demokratie: Wie engagieren wir uns für die offene Gesellschaft?“

Dokumentation zum Thementag der bagfa am 28. Januar 2019 in Berlin

Sorgenkind wäre zu viel gesagt. Aber ganz so selbstverständlich ist sie derzeit auch nicht mehr, unsere demokratische Kultur. Während die einen unter Labeln wie #unteilbar und #ausgehetzt demonstrieren und eine offene Gesellschaft verteidigen, greifen andere an und nähren einen populistischen Diskurs, der offen ausgrenzt. Was hat die Zivilgesellschaft damit zu tun? Braucht sie konkretere Visionen, entschlossenere Haltungen, passendere Ansätze – oder eher einen Alltag, der viele Gespräche auf Augenhöhe verlangt, auch und gerade mit Andersdenkenden?

Beim Thementag „Einsatzstelle(n) Demokratie“ ging es darum, sich über die Lage zu verständigen und auszuloten, was die Aufträge und Möglichkeiten sind. Auf Einladung der bagfa e.V. sowie den Kooperationspartnern, der ZiviZ gGmbH im Stifterverband und der Initiative Offene Gesellschaft e.V., kamen an die 40 Teilnehmende zusammen. Zwar unterschiedlich verankert, sei es in prominenten Think Tanks oder weniger bekannten Initiativen, in Freiwilligenagenturen oder sozialen Projekten, und auch nicht immer einig, waren sich alle aber doch sicher: Es besteht Handlungsbedarf. Politische Parteien, staatliche Akteure und Bürgergesellschaft müssen reden. Denn sie stecken, wie es Sophie Pornschlegel vom Progressiven Zentrum formulierte, in einem „gestörten Verhältnis“.

Was dabei schief läuft, wurde zum Auftakt bei einer von Alexander Thamm moderierten Podiumsdiskussion mit Sophie Pornschlegel, Das Progressive Zentrum, Dr. Anna Christmann, Mitglied des Deutschen Bundestages, Bündnis 90/ Die Grünen, und dem Publizisten Dr. Serge Embacher erörtert. Dass zivilgesellschaftliche Akteure vor allem für das Soziale da sind und sich aus allem Politischen raus halten – diese Rahmung, die ihr Selbst- und Fremdbild oft noch bestimmt, scheint nicht (mehr) angemessen. Sind sie nicht mehr nur als neutrale Brückenbauer, sondern (auch) als politische Trägergruppe gefragt, die für Demokratie Position beziehen?

Foto: bagfa e.V.

Anna Christmann sieht die beharrliche Trennung in Politik und Soziales auch institutionell angelegt. So seien für politische Beteiligung andere Ministerien zuständig als für soziales Engagement. Doch formelle Partizipation und bürgerschaftlichen Einsatz so auseinanderzudividieren sei nicht mehr zeitgemäß. Es gibt auch schon längst formelle Verfahren, die mehr Mitbestimmung ermöglichen. Neue Beteiligungsformate, wie sie im Einzelfall schon erfolgreich genutzt wurden, sind etwa Bürgergutachten oder Zufallsbürgerforen. Ein anderes Beispiel von Christmann: Politik verstehe Demokratieförderung überwiegend als Radikalisierungsprävention, auf Abwehr angelegt. Das sei zu kurz gedacht. Statt nur die Ränder zu bearbeiten, gilt es, auf vielen Ebenen und an vielen Orten demokratische Kultur zu entwickeln und zu pflegen.

Was als demokratisch goutiert wird und was nicht, da laufen die Meinungen auseinander. Das zeigt das aktuelle Beispiel der Gelbwesten in Frankreich. Während etwa Sophie Pornschlegel anmerkt, der Protest sei wenig konstruktiv, wird aus dem Publikum das Recht verteidigt, überhaupt erst einmal Widerstand artikulieren zu dürfen. Auch Wutbürger seien nicht immer gleich Nazis, erinnerte Embacher.

In seiner Rolle als politischer Publizist skizziert er noch einen großen Auftrag für die Zivilgesellschaft. Die verfasste Politik, so Embachers Diagnose, sei so in ökonomische Primate eingebunden, dass von ihr keine Lösungen für die drängendsten Probleme der Daseinsvorsorge zu erwarten wären. Nur Impulse aus der Zivilgesellschaft könnten eine Neuausrichtung bewirken. Wer wollte, konnte das auch auf ökologische Fragen ausweiten: Schafft die Politik die Klimawende – oder muss nicht die Zivilgesellschaft dafür neue Willensbildungsprozesse gestalten und unterstützen – wie jüngst die von einer 16-jährigen Schwedin ausgelösten Schülerdemonstrationen bzw. -streiks?

In Thementischen wurden die großen Themen im Lichte konkreter zivilgesellschaftlicher Kontexte mit folgenden Leitfragen verarbeitet:

  • Wo steht die Zivil- und Bürgergesellschaft mit ihren Projekten und Ansätzen zur Stärkung der Demokratie?
  • In welchen Formen kann die Zivilgesellschaft noch politisch-einflussreicher werden, wie kann ihre Agenda und ihre Vision von Demokratie aussehen?
  • Und wie kann sie in der Umsetzung wirkungsstärker werden?

Die Thementische wurden von Akteuren moderiert, die sich mit der Förderung der Demokratie in unterschiedlichen Kontexten beschäftigen:

  • Sebastian Wehrsig, mitOst e.V.
  • Christine Sattler, Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e.V.
  • Mascha Roth, Initiative Offene Gesellschaft e.V.
  • Stefan Krabbes, Fearless Democracy e.V.

Unerlässlich, um aktiv in der Demokratie mitzuwirken, sei es, so ein Ergebnis, sich als Akteur zu sehen, der an demokratischen Werten ausgerichtet ist. Viele Freiwilligenagenturen etwa verstünden sich als politisch neutral, so Christine Sattler von der Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e.V. Das aber dürfe nicht bedeuten, sich wertneutral zu geben.

Ebenso gut ist bürgerschaftliches Engagement per se noch kein demokratieförderliches Qualitätsmerkmal. Auch extremistisch Gesinnte haben Haltungen, auch sie bringen sich freiwillig ein. Die Deutungshoheit liberal-emanzipatorischer Haltungen sei langsam verloren, findet etwa Stefan Krabbes von Fearless Democracy e.V. Dass diese Entwicklung etwa in manchen osteuropäischen Ländern schon weiter fortgeschritten ist und die Zivilgesellschaft hier noch mehr kämpfen muss, deutete Sebastian Wehrsig von mitOst e.V. an. Umso wichtiger, am und im Dialog zu arbeiten, gerade auch mit denen, die anderer Meinung sind. Damit die Auseinandersetzung bei allen Gelegenheiten gelingt, so diverse Stimmen, sei erforderlich:

  • Neu kommunizieren lernen, will heißen, eigene Positionen kennen, gekonnt formulieren, mit Herzblut vertreten.
  • Unter Umständen das Leitbild der eigenen Einrichtung/ Freiwilligenagentur im Angesicht neuer Herausforderungen präzisieren und (noch) expliziter auf Werte wie Solidarität, Menschenrechte etc. Bezug nehmen.
  • Auf Argumente vertrauen, keine Auseinandersetzung scheuen, sich Kontroversen zutrauen und den Konsens erst am Ende des Gesprächs anstreben.
  • Die andere Meinung ernstnehmen, auch Provozierendes aushalten.

Dass in Sachen Augenhöhe auch die Zivilgesellschaft weiter lernen muss, darauf weist Mascha Roth von der Initiative Offene Gesellschaft e.V. hin: Erst seit Kurzem in diesem Sektor tätig, fiel ihr auf, wie schlecht sich zivilgesellschaftliche Akteure manchmal gegenseitig behandeln. Wie wolle man ohne wechselseitige Akzeptanz ins gemeinsame Handeln kommen? Zu prüfen ist also, wo man selbst Klischees und vorschnellen Urteilen aufsitzt.

Werteorientiert und demokratiesensibel arbeiten bedeutet in jedem Fall auch: konstruktiv mit Ambivalenzen umgehen. In Freiwilligenagenturen entstehen sie, wenn sich etwa jemand für Kinder engagieren will, aber nicht für solche mit Fluchterfahrung. Oder wenn ein Engagementwilliger eine Haltung andeutet, die mit dem eigenen Leitbild womöglich wenig vereinbar scheint.

Was tun: Trotzdem vermitteln? Erst überzeugen? Auf einen Lernprozess setzen? Es werden kreative Wege zu finden sein: zwischen Wertebindung und Einzelfallorientierung, zwischen Intervention und Toleranz, zwischen Auseinandersetzen und Aushalten. Und eine Gratwanderung zu meistern hat dabei auch der, der zwar für seine Werte nach außen offen einstehen will, aber gleichzeitig von einem Fördergeber abhängt, den dieses Gebaren eher irritieren könnte.

Eine Revitalisierung demokratischer Kultur, so ein weiterer Tenor, hängt zudem von Formaten ab. Wollen sie Werte, Partizipation etc. thematisieren, sollten zivilgesellschaftlicher Akteure nicht mit diesen Begriffen starten. So gewinne man nicht die, deren Mitwirkung wichtig wäre. Stattdessen besser Aktivitäten anbieten, die auf Bedürfnisse eingehen – auch wenn man am Anfang noch gar nicht weiß, was daraus wird. Den Menschen erst mal einen offenen Raum geben, ohne alles vorgekaut zu haben, so ein Ergebnis der Schlussrunde.

Wenn über gemeinsames Tun eine gemeinsame Basis gefunden ist – und sei es beim Spielenachmittag oder bei einem Fest –, ist Handlungsfähigkeit entstanden. Eine zentrale Ressource, die auch bei vielen Herausforderungen der gemeinsamen Gestaltung des Gemeinwesens gefragt ist.