04.07.2024

Das Engagement in einem ländlichen Raum aus der Stadt heraus fördern: Zu Besuch bei der Freiwilligenagentur Landkreis Regensburg

Eine Freiwilligenagentur in einem Industriegebiet, gelegen an einer vierspurigen Straße zwischen einer Molkerei und einem Discounter – ist das nicht deplaziert? Nach einem Besuch in der Freiwilligenagentur Landkreis Regensburg, aus Anlass unserer Jubiläumstour zu 25 Jahren bagfa, haben wir gelernt: Nein, das passt.

Zuständig für ein großes ländliches Gebiet um die bayerische Donaustadt herum, finden sich hier schließlich nur selten Freiwillige zur Beratung ein. Stattdessen sind es meist Vereinsvertreter:innen aus kleinen Städten oder Dörfern, die in die Mitte des Landkreises anreisen und zu Vernetzungstreffen und Fortbildungen angefahren kommen – wofür der Parkplatz nebendran praktisch ist. Und auch dass die Freiwilligenagentur im Landratsamt verankert ist und auf der gleichen Etage liegt wie etwa die Abteilungen für Regionalentwicklung, Tourismus oder Wirtschaftsförderung, schätzt das Team als vorteilhaft – weil die Stimme des Engagements so näher am Ohr der politischen Führung ist.

Vier von sechs Teammitgliedern der Freiwilligenagentur Landkreis Regensburg, alle stolz auf das Siegel des bagfa-QMS. V.l.n.r.: Dr. Gaby von Rhein, Lisa Finn-Hampel, Gisela Rothballer, Andrea Kaiser.

Kommunale Trägerschaft als große Chance

Auf jeden Fall hat das Thema Engagement einen steilen Aufstieg im Landratsamt gemacht: Im Jahr 2009 zuerst mit einer halben Stelle gestartet, angebunden an das Kulturreferat, hat die Freiwilligenagentur inzwischen sechs Mitarbeiterinnen für knapp vier Vollzeitstellen. Dass man nach personellen Veränderungen an der Spitze des Landratsamtes an dessen Pressestelle angesiedelt ist, sorgte für keinen Relevanzverlust. Dr. Gaby von Rhein, die die Agentur seit nun 15 Jahren leitet, beschreibt ihr Verhältnis zur Landrätin als eines auf Augenhöhe, geprägt von sachlicher Argumentation, engem Austausch und wohlwollender Unterstützung der Freiwilligenarbeit. Engagement politisch instrumentalisieren und etwa auf eine billige Dienstleistung reduzieren, das hat die promovierte Politikwissenschaftlerin noch nicht erlebt.

Die Freiwilligenagentur im Landkreis Regensburg – angesiedelt im Herzen des Landratsamtes

Deshalb ist es den Kolleginnen in Regensburg auch ein „Herzensanliegen“, dafür zu werben, unvoreingenommen auf kommunale Trägerschaften von Freiwilligenagenturen zu schauen. Natürlich müssten etwa öffentliche Äußerungen oder Projektvorhaben stärker abgestimmt werden als bei völlig autarken Agenturen. Aber der Behördenschelte, die teilweise zu vernehmen sei, kann das Team viele positiven Erfahrungen entgegenhalten. Dazu stellt man etwa das Miteinander von kommunal und nicht kommunal getragenen Agenturen heraus: Beide trieben doch die gleichen Themen um, sie machen das gleiche QMS, sind in der (gleichen) lagfa und derselben bagfa organisiert.

Außerdem handelt es sich zumindest in Bayern auch um eine Normalität: Die Hälfte der Freiwilligenagenturen, -zentren oder Koordinierungsstellen Bürgerschaftliches Engagement sei kommunal getragen.

Nicht zu unterschätzen, macht diese Einbindung es auch möglich, mit Weitblick zu planen. So überlegt die Leiterin schon, wie sie den Generationenwechsel einleitet, obwohl ihre Rente noch ein paar Jahre hin ist. Ein erster Ansatzpunkt dafür: die Kolleginnen sukzessive mehr Verantwortung übernehmen lassen.

Die besonderen Herausforderungen des ländlichen Raumes

In der Spitze rund 50 km lang und rund 60 km breit, dazu knapp über 200.000 Einwohner:innen in 41 Gemeinden: Das sind ein paar Kennzahlen zum Landkreis Regensburg, der sehr heterogen ausfällt – Gemeinden mit weniger als 1000 Einwohnenden stehen Städten mit bis zu 15.000 Personen gegenüber. Auf der einen Seite der Regensburger Speckgürtel mit einer guten Anbindung, auf der anderen Seite sehr ländliche Regionen. Wie die Netzwerkkarte im Büro verdeutlicht, ist die Freiwilligenagentur im nördlichen Landkreis stärker vertreten als im südlichen. Bedingt durch den Sitz der Agentur in der Stadt, aber ihrer Zuständigkeit für den Landkreis, spielt die klassische 1:1-Vermittlung im Agenturalltag wie erwähnt eine untergeordnete Rolle.

Der Arbeitsschwerpunkt liegt in der Projektarbeit, der Organisation von Fortbildungen sowie von Netzwerk- und Austauschtreffen. Hinzu kommt die Interessenvertretung für Belange freiwillig Engagierter und zivilgesellschaftlicher Organisationen – eine Aufgabe, die das Team deutlich begünstigt nachkommen kann, durch den kurzen Draht im Landratsamt.

Kürzlich war es ein besonderes Anliegen, zu dem die Freiwilligenagentur Vereinen eine Stimme verliehen hat. Prinzipiell wünscht sich das Team, Geld möge im Zusammenhang mit Engagement keine Rolle spielen, von Auslagenerstattung abgesehen. Doch das ist nicht immer realistisch, wie sich am Beispiel der Nachbarschaftshilfen im Regensburger Land zeigt. Gerade hätten einige entsprechende Vereine gedroht aufzugeben – weil die Bürokratie überhand nimmt.

Andrea Kaiser (l.) und Dr. Gaby von Rhein (r.) vor der Karte des Landkreises

Um die komplizierte rechtliche Materie nur anzudeuten: Die Abrechnung von Fahrtkosten lässt sich, wie sich herausstellte, nicht mit einer Aufwandsentschädigung vereinbaren, die dabei gerne gezahlt wird. Doch die Fahr- und Begleitdienste, die die Freiwilligen der Nachbarschaftshilfen übernehmen, sind im ländlichen Raum elementar. Da oft weder gewerbliche Anbieter noch Busverbindungen vorhanden sind, ermöglichen sie Mobilität. Wie sonst zum Arzt etc. kommen? Eine brenzlige Problematik für die Daseinsvorsorge auf dem Land, weshalb die Freiwilligenagentur ein Gespräch der Landrätin mit Vereinsvorsitzenden organisierte. Die regionale Zeitung berichtete darüber – auf einer dreiviertel Seite! Eine Lösung wird noch gesucht.

Drei große Projekte: Nachbarschaftshilfe, Vereinsberatung, Lesepatenschaften

Die Freiwilligenagentur ist der koordinierende Kopf vom Netzwerk der Organisierten Nachbarschaftshilfen im Landkreis Regensburg, bringt diese zusammen und fördert deren Entwicklung und Ausbau. Seit Gründung der ersten Nachbarschaftshilfe-Initiative im Landkreis 2009 haben nun 28 von 41 Gemeinden solch ein Angebot. Aber Nachbarschaftshilfe – ist das eigentlich noch Engagement? Dazu hat die Agenturleitung eine klare Antwort: Diese freiwillige Betätigung sei zwischen „privater Hilfe übern Gartenzaun“ und „professionellem Dienst“ angesiedelt und durchaus öffentlich, da sie jenseits der Familie stattfinde und eine gemeinschaftliche Reaktion auf den Strukturwandel im ländlichen Raum sei. Wie schon angedeutet, der ÖPNV wird immer mehr ausgedünnt, Bankfilialen schließen, und auch jenseits von Mobilitätsfragen brauchen etwa Senior:innen Unterstützung. Ohne Nachbarschaftshilfe keine Daseinsvorsorge.

Die Kolleginnen der Freiwilligenagentur mit Theresa Ratajszczak aus der bagfa-Geschäfsstelle

Darüber hinaus haben sich die Regensburger Kolleginnen die Beratung von Vereinen auf die Fahne geschrieben und eine Fortbildungsreihe namens „Vereinsschule“ aufgebaut, eine Qualifizierung für freiwillig Engagierte. So stärke man eine Struktur, die in ländlichen Gebieten besonders relevant seien: Vereine bilden hier Mittelpunkte für das soziale Leben. Bislang haben 3.500 Teilnehmende aus 769 Vereinen die Schule durchlaufen. Auch ein individuelles Vereinscoaching wurde von Regensburg aus organisiert. Weil auch hier vieles bürokratische Fragen betrifft, gibt es seit 2023 zu vereinsrechtlichen und steuerlichen Fragen ein eigenes Beratungsangebot in Zusammenarbeit mit einem Rechtsanwalt: eine rechtliche Erstberatung für Vereine.

Noch ein Steckenpferd (neben vielen weiteren Aktivitäten wie Anerkennungskultur) ist die Förderung des Lesens. Vorlesepat:innen werden schon in Kitas entsandt; eine Kollegin setzt „Mentor – die Leselernhelfer“ um, wodurch eine 1:1 Betreuung für Schulkindern ermöglicht wird. Und seit Kurzem setzt das Team auch auf Online-Leselernhilfen: Hier wird eine Leseunterstützung für Grundschüler:innen mittels Videokonferenz organisiert. Ein Projekt, das demnächst evaluiert wird.

Damit ist längst nicht alles über Engagementförderung für eine ländliche Region wiedergegeben, was die Kolleg:innen ihrem herzlich empfangenen bagfa-Besuch erzählten, bei leckeren Snacks und an einem Tag, an dem sich mehr und mehr die Sonne gegen die Wolken durchsetzen konnte. Während wir von der Schönheit des Regensburger Lands leider nicht viel mitbekommen hatten, wurde zum Ausgleich bei der Rückreise durch die Stadt deutlich, wieso man Regensburg die nördlichste Stadt Italiens nennt.

Die Freiwilligenagentur Landkreis Regensburg im Überblick:

  • Gründungsjahr: 2009
  • bagfa-Mitglied seit: 2014
  • Das bedeutet Engagement für euch:
    Mitwirken, vorwärtsbringen, einmischen, Gemeinschaft, Spaß, „Herzensmomente“.
  • Das zeichnet eure Freiwilligenagentur aus:
    Wir sind dankbar für unsere kommunale Trägerschaft.
  • Auf welches eurer Projekte seid ihr besonders stolz:
    Auf zwei: die Integrative Laufgruppe (2011 – 2013) und die Vereinsschule (seit 2015)
  • Eurer einprägsamster Lernmoment:
    Da haben wir gefühlt täglich welche… im Kontakt mit Ehrenamtlichen und Organisationen, bei lagfa- oder bagfa-Fortbildungen und Tagungen…
  • Eure (Glück-)Wünsche für die bagfa:
    Glückwunsch zu dem Standing, das die bagfa in der Engagementwelt heute hat – verbunden mit einem großen Dank an alle, die da haupt- und ehrenamtlich mitgewirkt haben! Alles alles Gute für die nächsten 25 Jahre! Auf dass es so gut weiterläuft und die bagfa so divers, agil, lebendig, engagiert, offen und alle – uns Mitglieder und die Fachwelt – so wertvoll bleibt!