01.12.2020

Wenn Engagement wider Willen ausgrenzt: 55 Minuten mit… Prof. Dr. Chantal Munsch

Das fünfte bagfa-Digital-Gespräch mit einer Erziehungswissenschaftlerin über misslingende Zugänge und Grenzen der Teilhabe – und wie sie sich überwinden lassen

Kein Zweifel: Auf den Fahnen der Zivilgesellschaft steht, dass sie für Partizipation, Integration und Teilhabe sorgt. Jede/r soll mitmachen und sich einbringen können. Doch die Realität löst dieses Ideal nicht immer ein. Das zeigt die ethnografische Forschung von Chantal Munsch. Damit leuchtet die Erziehungswissenschaftlerin einen lästigen blinden Fleck aus – mit dem sich alle Akteure dennoch konfrontieren müssen.

Foto: Universität Siegen

Warum beschäftigt sie sich mit diesem Thema?

Partizipation ist Chantal Munsch ein Herzensanliegen. Menschen sollen mitreden können. Gerade im Engagement gebe es ein Feld, das allen zugänglich ist beziehungsweise sein sollte. Wer hier kritisch hinschaut, sei nicht missgünstig, sondern eher realistisch. Stehe doch die angenommene Offenheit der Zivilgesellschaft konträr dazu, dass die Gesellschaft tatsächlich hierarchisch geordnet ist. Wenn der Zugang zu vielen Positionen sonst auch von sozialen Merkmalen abhängt, von Geschlecht, Bildungsweg, Migrationshintergrund etc., wieso sollte es dann hier anders sein?

Wie ist sie zu ihren Erkenntnissen gekommen?

Chantal Munsch forscht mit einem qualitativen, ethnographischen Ansatz. Als teilnehmende Beobachterin war sie in einem Stadtteilhaus mittendrin und konnte den Alltag dort genau verfolgen. Ohne schon auf Theorien zurückzugreifen, nimmt sie offen wahr und protokolliert alles. Nicht zuletzt achtet sie dabei darauf, wie Menschen mit Blicken, Gesten, Worten handeln.

Und was hat sie gefunden?

In dem Stadtteilhaus zeigt sich: Hier engagieren sich vor allem Menschen mit höherer gesellschaftlicher Position und Bildungsgrad. Kein Einzelfall, oft finden sich die “üblichen Verdächtigen”, sagt Chantal Munsch. Milieugrenzen seien eben schwer zu überwinden. Dabei müsse an der Oberfläche meist gar nichts schief laufen. Dennoch kommt es dazu, dass Menschen aus weniger privilegierten Umständen nicht viel sagen, stummer bleiben, ‚eingeschüchtert‘ sind aufgrund des Habitus derer, die vermeintlich kluger reden können etc.

Wie lassen sich solche ungewollten Ausgrenzungen vermeiden?

Weil diese Mechanismen der feinen Unterschiede sehr verdeckt und die Prozesse so schnell ablaufen, geht es für Chantal Munsch zuallererst darum, die eigenen Reaktionen wahrzunehmen und zu registrieren, wie man Stereotypen aufsitzt. Zunächst muss man sich irritieren lassen.

Passt diese Empfehlung zur alltäglichen Praxis?

Durchaus, fand eine Teilnehmerin, und berichtete über die Beratung einer Frau, der sie, obwohl erst wenige Worte gesprochen waren, ein Engagement in der Altenhilfe nahelegen wollte. Eine vorschnelle Reaktion, denn es zeigte sich, dass die Frau sich sehr für Geflüchtetenhilfe interessiert.

Was waren Chantal Munschs drei Wünsche an Freiwilligenagenturen?

Das Wichtigste: Sie wünschte sich, dass sich die Mitarbeitenden überraschen lassen sollen. Die Bilder und Stereotype, die einem bei der Begegnung auftauchen, beobachten und reflektieren.
Dann hofft sie, Freiwilligenagenturen in einer Scharnierfunktion sind in der Lage, das Geschehen in lokalen Organisationen mit zu prägen, indem sie die ungewollten Ausgrenzungsphänomene besser im Blick haben und gegebenenfalls darauf hinweisen.
Und sie hatte noch eine Empfehlung für einen Kontext, in dem man verfolgen kann, wie gelebte Diversität funktioniert. Die österreichische Armutskonferenz sei für sie ein beeindruckendes Beispiel.

Was war einem Teilnehmer wichtig zu unterscheiden?

Im Chat schrieb er, Folgendes ginge ihm durch den Kopf: „Das eine ist die Barriere, die Ausgrenzung von Menschen, die sich eigentlich engagieren wollen. Das andere ist die Ermutigung, das Empowerment von nicht engagierten, ‚passiven‘ Menschen unter dem Gesichtspunkt der Teilhabe, da Engagement mit anderen Menschen Netzwerke und Chancen eröffnet.“