20.09.2021

Aufschlussreiche Wahlprogramme, bleibende Leerstellen: 55 Minuten mit … Prof. Dr. Adalbert Evers em.

Der bagfa Digital-Talk über Engagement und Zivilgesellschaft in den Wahlprogrammen und die möglichen Folgen davon

Foto: Prof. Dr. Adalbert Evers em.

So offen der Ausgang der Bundestagswahl derzeit ist, so lässt sich schon absehen: Die Positionen, die die Parteien zu Engagement und Zivilgesellschaft einnehmen, werden keine Rolle spielen. Auch wird an diesen Themen keine Regierungsbildung scheitern. Warum es aber dennoch lohnt, einen Blick in die Programme jener zu werfen, die wahrscheinlich wieder im Bundestag vertreten sein werden, das war ein Thema im Digital-Talk Mitte September, bei dem wir Prof. Dr. Adalbert Evers em. zu Gast hatten. Bis 2013 Professor für Vergleichende Gesundheits- und Sozialpolitik an der Universität Gießen, vielen auch bekannt als Mitglied der Enquetekommission des deutschen Bundestages zur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements, wartete der Zivilgesellschaftsforscher mit aufschlussreichen Analysen zu den Wahlprogrammen auf – und machte klar, was ihm bei fast allen fehlt.

Warum sollte man sich als engagementfördernde Organisation die Wahlprogramme der Parteien anschauen, wo doch Papier geduldig ist?

Wahlprogramme sind wie ein Schaufenster der Parteien: Hier zeigen sie, wie sie sich darstellen wollen: Aber wichtiger noch: Sie zeigen, mit welcher Haltung und Wahrnehmung man es zu tun hat – und welches Grundverständnis von Engagement und Zivilgesellschaft sie haben. Alles Punkte, die auch für das Lobbying wichtig sind zu wissen, denn so kann man seine Argumentation anschlussfähig machen.

Und welche Grundverständnisse von Engagement bilden sich in den Programmen ab?

Überall tauchen Vorstellungen auf, die zu den entsprechenden politischen Traditionslinien passen. Bei der Linken liegt ein Fokus auf dem Engagement der sozial benachteiligten Menschen und auf emanzipatorischen Bewegungen. Die Grünen sehen Zivilgesellschaft als integralen Bestandteil der Gestaltung der Gesellschaft, was auf ihre eigene Herkunft aus diversen Initiativen und Bewegungen verweist und ein „dialogischeres Verhältnis“ begründet. Die Liberalen betonen die Möglichkeit, sich im Engagement individuell entfalten zu können und Selbstwirksamkeit zu erleben. Die SPD hebt hervor, dass Menschen auch selbstbestimmte Zeit haben müssen, um sich engagieren zu können, passend zum Fokus auf Arbeitnehmerrechte. Im Programm der CDU spiegele sich, wie Engagement als „Befestigung eines guten sozialen Miteinanders“ verstanden und darauf verengt wird.

Was sind die zwei großen Erzählungen über das Engagement – und warum sollte sich keine davon allein durchsetzen?

Die eine Erzählung geht aus von einer aktiven Zivilgesellschaft, die im Namen von sozialem Fortschritt Lobbyarbeit macht und auch politische Ziele hat. Bei der anderen steht die Hilfe im Vordergrund, als Ausdruck von Menschlichkeit, anderen Gutes zu tun.
Je weiter links die Positionen sind, desto eher wahrscheinlich folgt sie der ersteren Erzählung; je weiter rechts, desto eher der zweiteren.
Für Adalbert Evers kommt es aber darauf an, dass man sich hier nicht auf eine Seite schlägt. Es brauche beide Bilder des Engagements, beide Verständnisse müssten Raum bekommen, denn beide haben Vorteile, beide sind notwendig.

Und wie kann man sich das Schweigen des AfD-Programms erklären?

Dass sich die AfD in ihrem Programm gar nicht zum Engagement äußert (außer dass es für die Brauchtumspflege gebraucht wird), überrascht Adalbert Evers nicht. Organisierte bürgerschaftliche Verantwortungsübernahme passe nicht in ihr Konzept. Es gehe eher darum, Unsicherheit zu mehren. Der Druck der Straße solle hier zu einem starken Staat führen, in dem die Zivilgesellschaft nur eine kleine Rolle spielt.

Was vermisst Adalbert Evers bei fast allen Wahlprogrammen?

Der Schutz des Klimas und die Herausforderungen, die mit seinem Wandel verbunden sind, verlangten eine gemeinsame Kraftanstrengung. Parteigrenzen müsse man dabei genauso überwinden wie die gewohnten Trennungen zwischen anderen gesellschaftlichen Bereichen. Nur mit pluralen Formen von Kooperation und gemeinsamer Erörterung und neuen Wegen der Selbstorganisation sei das zu stemmen. Kein Wort davon in den Programmen, nur bei den Grünen werde das angedeutet. (So schreibt er es auch in seinem Beitrag im BBE Newsletter hier, passend mit „All together now“ betitelt.)

Und was waren die drei Wünsche an Freiwilligenagenturen, die wir zum Schluss immer erfragen?
  • Oft werden Staat und Parteien als konträr zur Zivilgesellschaft verstanden. Das führt dazu, dass Kooperationen nicht zustande kommen. Diese Gegeneinandersetzung gilt es bei zentralen Themen zu überwinden, sagt Adalbert Evers. Gerade die Zusammenarbeit mit Parteien – im lokalen Rahmen seien diese häufig ehrenamtlich getragen – solle man auf- und ausbauen.
  • In Sachen Klimaschutz wünscht er sich in diesem Sinne, dass die Freiwilligenagenturen die lokale Politik mit prägen können, indem sie der Vielzahl der dabei beteiligten Akteure zusammenführen, ihnen eine Stimme geben und klar machen, was diese zum Klimaschutz beitragen können. Hier sollte die bagfa die Freiwilligenagenturen unterstützen.
  • Bei all dem sei wichtig, auszuloten, wie man sich auf Zusammenarbeit mit Parteien und staatlichen Akteuren einlässt – und gleichzeitig seine Eigenständigkeit bewahrt.