17.12.2021

Gleiche Geschlechter- bei ungleicher Macht-Verteilung? 55 Minuten mit… Dr. Siri Hummel

Ein Digitalgespräch über Gleichstellung und Sexismus in Zivilgesellschaft und Engagement

Dr. Siri Hummel

Es gibt nicht viele Wissenschaftler:innen, die über Zivilgesellschaft und Engagement forschen. Und noch viel weniger sind es, die Geschlechterfragen in diesem Bereich systematisch verfolgen, oder gar erst das Phänomen Sexismus. Umso wertvoller, dass Dr. Siri Hummel im bagfa-Digitaltalk am 15. Dezember Auskunft und Einschätzungen dazu gab. Die stellvertretende Direktorin des Maecenata Instituts war ihrerseits dankbar für die Einladung, müsse sie doch das Thema sonst eher selbst in die Szene tragen. Als Wissenschaftlerin bewege man sich damit noch auf dünnem Eis, auch empirisch, denn es gibt noch wenige Daten, so die Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin. In der Zivilgesellschaftsforschung werde nur selten die Geschlechterperspektive abgebildet. Hier weitere Aussagen von ihr:

Überall wird über ungerechte Geschlechterordnungen und Sexismus berichtet und debattiert – nur nicht in Zivilgesellschaft und Engagement. Warum eigentlich nicht?

Aus zwei Gründen, sagt Siri Hummel: Einmal wissen wir noch zu wenig, das Monitoring ist unterentwickelt, und wir haben zu wenige Akteure, die für und über die Zivilgesellschaft berichten. Zum zweiten gebe es die normative Erwartung, dass es in der Zivilgesellschaft anders zugeht, allein schon, weil es hier eine starke feministische Tradition gibt. Sich selbst als progressiv verstehend, herrsche die Einstellung vor: Bevor wir schauen, was bei uns schiefläuft, sollten sich erst mal alle anderen verbessern.

Wie könnte man die Doppelgesichtigkeit der Zivilgesellschaft und des Engagements in Sachen Gleichstellung nennen?

Siri Hummel erinnert daran, dass entscheidende Impulse hier von sozialen Bewegungen kamen: Frauenrechte stärken und durchsetzen war ein ureigenes Anliegen der Zivilgesellschaft. Gleichzeitig zeigen diverse Studien, wie sich Geschlechterungleichheiten, die sonst die Gesellschaft prägen, auch im zivilgesellschaftlichen und ehrenamtlichen Bereich niederschlagen. So gibt es etwa eine ungleiche Verteilung der Positionen in Kontrollgremien und Leitungsfunktionen, die einem bekannten Muster folgt:  Je mehr Entscheidungsmacht mit einer Position verbunden ist, umso seltener ist sie mit Frauen besetzt. Das gilt auch für ehrenamtliche Vorstandsämter im Engagementbereich, wo sich sonst ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis eingestellt hat. Noch viel zu bewegen also, schließlich müsse es Anspruch der Zivilgesellschaft sein, weiter Vorreiterin und progressiv zu sein.

Im zivilgesellschaftlichen Sektor und erst recht in Freiwilligenagenturen gibt es eine weibliche Dominanz – wie kommt es?

Etwa 75 Prozent der hauptamtlichen Mitarbeiter:innen in zivilgesellschaftlichen Organisationen sind weiblich, in Freiwilligenagenturen dürften es noch mehr sein. Ein Ansatz der Erklärung für diesen hohen Anteil: Der Sektor bietet die Möglichkeit, in Teilzeit zu arbeiten. Was Hummel durchaus als Vorteil sieht, auch wenn Frauen diese Beschäftigungsform eher nutzen, weil sie mehr Sorgearbeit leisten als Männer. Zudem ist der Bereich offen und geeignet für einen Quereinstieg – und es sind Jobs mit Sinn.

Soll es eigentlich um Ergebnisgleichheit gehen, also immer Halbe-halbe, oder um gleiche Chancen für alle Geschlechter?

Für Hummel eine eher witzlose Frage. Wenn es Chancengleichheit gäbe, würde das ihr zufolge statistisch automatisch auch zu zahlenmäßiger Parität führen. Und natürlich ist wichtig, auch an alle Geschlechter zu denken und sich nicht nur auf Frauen und Männer zu reduzieren. Und dabei nicht vergessen, dass Transsexuelle etwa besonders stark diskriminiert werden.

Siri Hummels Rat, um mehr Gleichstellung auf allen Positionen erreichen:

Es gibt schon viele erfolgreiche Beispiele für Doppelspitzen in der Geschäftsführung – ein Modell, das man bei Leitungsfunktionen nachahmen solle. Stets wichtig sind Vorbilder, die zeigen, dass und wie es geht, und zwar sowohl für Frauen als auch für Männer. Ansonsten haben die Akteure viele Stellschrauben nicht selbst in der Hand, am wenigsten die schlechte Bezahlung, zusammen mit geringem Prestige eine zentrale Hürde, die Männer abschreckt. Prinzipiell gebe es bereits viele Organisationen, die dazu beraten und Vereine etc. begleiten können. Aber dafür bräuchte es natürlich (finanzielle) Ressourcen.

Was wissen wir über Sexismus bzw. sexualisierte Gewalt in Zivilgesellschaft und Engagement?

Abgesehen von den prominenten Fällen in Kirchen und Sport ziemlich wenig, sagt Siri Hummel. Gründlich hat eine Studie zu Sportvereinen hingeschaut. Hier gab ein Viertel der Befragten an, bereits sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Die Beobachtung und Monitoring sei aber gerade bei sehr kleinen Strukturen/Vereinen schwierig.

Was braucht es, um diese Form der Gewalt zu verhindern?

Allem voran mehr Sensibilisierung für Machtfragen in der Zivilgesellschaft. Es gilt die Formel: Je größer die Machtgefälle, desto leichter ist möglich, Macht zu missbrauchen. Und die Prekarität im sozialen Sektor sei nun mal ein Problem, das die Ungleichgewichte groß hält. Auch scheinen zentrale Beschwerde-/Beratungsstellen sinnvoll, jedoch sollten sie niedrigschwellig sein und nur als ein Teil des notwendigen Sensibilisierungsprozesses verstanden werden.

Was war Teilnehmer:innen wichtig, im Feedback zurückzumelden?

Einmal: „Das ‚Wir sind die Guten‘-Hindernis, die eigene Organisation zu hinterfragen“. „Das Schauen auf den Alltagssexismus in der eigenen Organisation“. „Interessant, dass fast alle Teilnehmer*innen offenbar weiblich waren und der Moderator ein Mann mit männlicher Perspektive“.

Und was sind Siri Hummels drei Wünsche an die Freiwilligenagenturen?
  • Bitte das Bewusstsein für Geschlechterfragen ausbauen, weiterentwickeln und in den eigenen Arbeitsalltag einfließen lassen.
  • Bitte Intersektionalität mit bedenken, den Umstand, dass es Mehrfachdiskriminierungen gibt, die es Betroffenen noch schwerer macht, gleich behandelt zu werden.
  • Bitte den Mut haben, alle praktischen Fragen kreativ anzugehen, außerhalb der gewohnten Bahnen zu denken und zu handeln.
Drei Literatur- und Quellenhinweise

Eine Studie zu Karriere von Frauen in Zivilgesellschaft von der Uni Münster hier.

Die Studie zu sexualisierter Gewalt im Vereinssport hier.

Ein Beispiel, wie so eine Safeguarding-Policy aussehen kann hier.