09.03.2020

2.700 Freiwillige in einer „Nacht der Solidarität“

Drei Fragen an Dr. Jochen Gollbach von der FreiwilligenAgentur Marzahn-Hellersdorf

Obdachlose und ihre Not gehören in Berlin – leider – zum Straßenbild. Wie viele Betroffene es gibt, dazu gab es nur Schätzungen, zwischen 2.000 und 10.000 sollten es sein. Der Senat wollte es genauer wissen und lud zu einer „Nacht der Solidarität“.

Anfang Februar sollten Teams von Freiwilligen ins Stadtgebiet ausströmen und zwischen 22 und 1 Uhr drei Stunden lang systematisch alle sichtbaren Obdachlosen erfassen und befragen. Koordiniert wurden die Freiwilligen von der FreiwilligenAgentur Marzahn-Hellersdorf.

Freiwillige, die alle obdachlosen Menschen in Berlin erfassen: Das Vorhaben klingt gigantisch. Was war die größte Herausforderung für Eure Freiwilligenagentur, das zu managen?

Dr. Jochen Gollbach: „Die große Zahl von Freiwilligen hat uns sehr gefordert. Wir hatten anderthalb zusätzliche Personalstellen, was nur kaum gereicht hat. Unser Anspruch war, trotz der vielen Freiwilligen es so persönlich wie möglich zu gestalten. So haben wir die Interessierten im Vorfeld der „Nacht der Solidarität“ jede Woche eine Freitagsmail mit kurzen Infos geschickt, was sehr gut ankam. Und wir haben uns die Mühe gemacht, jede Mail persönlich zu beantworten und auf jeden Anrufer einzugehen. Keine Nebensache, denn jede Woche kamen 200 bis 400 Mails, und unser Telefon stand zeitweise nicht mehr still.

Der Erfolg gab uns aber recht: Fast 3.800 Freiwillige hatten sich via Freinet online registriert, zwischen November und Mitte Januar sind etwa 20 Prozent wieder ausgestiegen, und dann am Abend nochmal gut 10 Prozent. Für so ein Großereignis draußen bei Wind und Kälte immer noch wenig.“

Der Auftrag und die Finanzierung erfolgte durch den Senat. Gab es unterschiedliche Ansichten, wie das alles umgesetzt werden sollte?

„Die konzeptionelle Auseinandersetzung mit der Senatsverwaltung war für uns ein wichtiger Teil des Ganzen. Deren verständlicher Wunsch war, alles so sicher wie möglich zu planen. Uns war dagegen wichtig, dass die Aktion partizipativ angelegt ist und die Freiwilligen nicht nur etwas ausführen, sondern das auch selbst gestalten können. Wir haben beispielsweise eingebracht, dass sich die Teams am betreffenden Abend selbst bilden und besprechen, wie sie vorgehen. Was auch gut geklappt hat. Den Freiwilligen in dieser Weise etwas zutrauen – das ist voll aufgegangen und war für uns eine tolle Bestätigung und für die Verwaltung eine wichtige Lernerfahrung.

Das zeigte sich auch bei anderen Hürden, die man vorab gesehen hat. So machte es Kopfzerbrechen, dass unter der Woche die Busse und Bahnen nur bis 1 Uhr fahren, die Erfassung aber erst danach endete. Wie sollten die Leute nach Hause kommen? Für die Freiwilligen war das kein Problem, sie haben einfach Mitfahrgemeinschaften organisiert.“

Foto: Senat für Integration, Arbeit und Soziales, Berlin

Und wie lief die „Nacht der Solidarität“ letztendlich, nach so viel Kritik im Vorfeld?

„Es gab einige kritische Stimmen, die sich aber nur auf die Zählung und den Namen bezogen, nicht auf das, was insgesamt das Anliegen war. Als Freiwilligenagentur haben wir die Erfassung nicht als einmalige Aktion verstanden, sondern als Teil eines größeren Ansatzes, um mehr für diese Gruppe zu tun. Nicht zuletzt hatten die Wohlfahrtsverbände immer gefordert, eine Zahl zu haben. Jedenfalls hat das eine öffentliche Kontroverse ausgelöst, die das Thema Obdachlosigkeit neu auf die Agenda gebracht hat. Jetzt sind Politik und Verwaltung am Zug, damit aus dem Ergebnis, 1.976 erfasste obdachlose Menschen, Maßnahmen folgen.

Insgesamt finde ich, es ist schon mal was, dass 2.700 Berliner/innen gesagt haben, ich will mich kümmern. Die Nacht bot eine Gelegenheit, sich einem schweren Thema auf leichtere Weise zu verbinden, gemeinsam mit anderen in einem überschaubaren Einsatz. Selbst wer in seinem Gebiet keine betroffenen Menschen entdeckt hat, hat bei der Aktion eine Ahnung bekommen, wie es sich wohl anfühlen muss, in einer kalten Nacht auf der Straße zu liegen.

Inzwischen kommen die ersten Anfragen aus anderen Städten. Wenn Freiwilligenagenturen überlegen sollten, das zu organisieren, würde ich sagen: ‚Ja, macht das!‘ Der Sachen wegen und auch weil man eine große öffentliche Aufmerksamkeit für das bekommen kann, was Freiwilligenagenturen zu leisten vermögen.“

“Insgesamt finde ich, es ist schon mal was, dass 2.700 Berliner/innen gesagt haben, ich will mich kümmern.”
Dr. Jochen Gollbach