25.05.2021

Von Reißverschlüssen, schweren Prüfungen und alten Damen mit dem Namen einer Schneekönigin

20 Geschichten aus Impulspatenschaften in je 100 Worten

Ein Reißverschluss, der Schwung bringt, ein Hase, der den Weg anzeigt, ein Handy, das Köpfe knallen lässt: Das alles spielt in den folgenden Geschichten, gewonnen aus wahren Begebenheiten in Impulspatenschaften, eine ebenso tragende Rolle wie etwa der Kriminalbeamte, der eine neue Mission bekommt, die Vegetarierin, die plötzlich Fleisch einkauft, oder die alte Dame mit dem Namen einer Schneekönigin.

Ein älterer und ein jüngerer Mann sitzen auf einer Bank und schauen gemeinsam auf ein Papier.
Ein Tandem vom Freiwilligenzenzrum Kassel (Foto: Frank Gerhold)

Zum Hintergrund: Mit dem Format „Impulspatenschaften“ stiften aktuell 24 Freiwilligenagenturen besondere Begegnungen zwischen Menschen, die sich in ihrem Alltag eher nicht treffen würden. Freiwilligen bietet das Projekt die Chance, sich niedrigschwellig einzubringen. Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund oder in anderen schwierigen Lebensbedingungen erhalten Impulse für Integration, Teilhabe und Zusammenhalt. Zu lernen und zu tun gibt es für alle sowieso – in Corona-Zeiten nicht weniger.

Aus den drei Treffen, die zunächst vorgegeben sind, entsteht oft mehr. Was und wie, das zeigen die nachfolgenden 20 Geschichten, erzählt aus verschiedenen Perspektiven, aufgeschrieben von Kolleg:innen in den Freiwilligenagenturen, von Kooperationspartnern oder Freiwilligen selbst.

Die bagfa e.V. präsentiert die Stories als kleines feines Panorama vielfältiger Konstellationen mit ganz unterschiedlichen Erfolgen und Herausforderungen. Die Texte sollten, passend zum niedrigschwelligen Engagementformat, knapp und kurzweilig sein – und deshalb genau 100 Worte umfassen. Im angelsächsischen Raum sind 100 Word Stories ein eigenes beliebtes Genre, als Übung an Universitäten ebenso eingesetzt wie in Rubriken der New York Times.

Erstmals veröffentlicht werden die Geschichten anlässlich des Digitalen Aktionstags des Bundesprogramms „Menschen stärken Menschen“ am 1. Juni 2021, gefördert von Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.  


Der Aufschlag

Eine Frau ist in meine Wohngemeinschaft gekommen und hat gesagt: „Mit dir gehe ich jetzt jede Woche spazieren.“ Ich kann nicht sprechen, deshalb konnte ich nichts fragen. Also machte ich einen aufmerksamen Eindruck und war gespannt, was passiert. Die Frau legte mir eine Jacke um, bevor sie mich in meinem Rollstuhl nach draußen schob. Es war frisch, die Luft war anders, als ich es gewohnt war. Ich hörte die Vögel singen. Und ich hörte noch ein interessantes Geräusch. Es war das Klackern vom Reißverschluss meiner Jacke. Er klopfte gegen die Speichen meines Rollstuhls. Ich begann, mich im Takt zu bewegen.

Der lange Weg nach draußen

„Gerda“, diesen Namen hatte er zuletzt gehört, als ihm sein Vater das Märchen von der Schneekönigin vorgelesen hatte. Bei seiner Gerda jedoch handelt es sich um eine ältere Dame, wacklig geworden, seit sie wegen Corona kaum einen Fuß vor die Tür setzt. Eigentlich hatte sie über die Freiwilligenagentur jemanden gesucht, der für sie einkaufen ging. Heute aber will Norman mit ihr spazieren gehen und sich einfach unterhalten. „Wenn es denn sein muss“, sagt sie mürrisch, bevor sie den Rollator anschiebt. Als ihr die Frühlingssonne ins Gesicht scheint, hat Norman einen kurzen Moment den Eindruck, ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.

Wieder zuhause

Norma mochte Kinder sehr gerne. In Honduras, ihrer Heimat, hatte sie für Straßenkinder Essen und Kleidung gesammelt. In Deutschland war sie sich noch unsicher, was sie tun und wie sie hier helfen konnte. Und dann sagte Pauline, die sie zum Glück kennengelernt hatte, auch noch: „Ich zeig dir, wie hier der Hase läuft.“ Aber wieso Hase? Norma versteht kein Wort. Sie wollten doch in einer Kita vorlesen. Beide betreten ein Haus namens „Sonnenschein“. Normas Herz klopft bis zum Hals. Kinder laufen ihnen freudestrahlend entgegen. Beide setzen sich mit ihnen auf die Ministühle, klappen ihre Bücher auf und beginnen zu lesen.

Das Hindernis

„Wer soll denn diesen Mist hier verstehen?“ Silvio schimpft, als er Seite 6 von 10 des Formulars aus der Agentur für Arbeit durchblättert. Genervt legt er die Blätter zur Seite und schaut Christine mit fragenden Augen an. Im letzten Jahr hatte er seinen Job verloren. 20 Jahre hatte er in dem Betrieb gearbeitet. Dann stimmten die Zahlen nicht mehr, und Mitarbeiter wurden entlassen. Christine schiebt ihm eine Tasse mit Kaffee rüber. „Na, komm, wir schauen uns das nochmal in Ruhe gemeinsam an.“ Widerwillig stimmt Silvio zu. Am Ende des Tages wirft er den dicken Umschlag ans Arbeitsamt in den Briefkasten.

Ins Wasser

Seit ich klein bin, war ich schon nicht mehr in einem Schwimmbad. Meine Schwester wohnt zu weit weg, und vor Ort habe ich niemanden, der mich begleiten könnte. Aber das muss nicht so sein. Denn über die Freiwilligenagentur lernte ich eine junge Dame kennen, mit der ich mich für einen Dienstag verabredete. Mein bester Dienstag seit vielen Jahren! Ich kann zwar nichts sehen, aber ich spürte das Wasser auf meiner Haut und hörte, wie die Kinder sich nass spritzen und die Whirlpools blubbern. Nächste Woche fühle ich Tiere, wenn wir gemeinsam in den Streichelzoo gehen, vielleicht an meinem besten Mittwoch.

Aufblühen

Was sollte sie machen, die Arbeit war nicht mehr zu schaffen, deshalb war Ilse vom Eigenheim und geliebten Garten in eine kleine Wohnung gezogen. Eigentlich eine selbstständige, lebensfrohe Frau, auch mit 81, tat sie sich schwer im neuen Umfeld. Das Alleinsein unerträglich, die Corona-Einschränkungen! Traurigkeit und Hilflosigkeit überkamen sie, sogar ihre Balkonpflanzen verkümmerten. Hilfesuchend fand sie eine Frau, die gern ihre Zeit teilte. Erst telefonierten sie, eher oberflächlich, doch bald fanden sie sich spannend. Zusammen erkundeten sie die neue Umgebung. Die gemeinsamen Schritte machten sie zuversichtlich. Und mit dieser Zuversicht kam die lebensfrohe Ilse zum Vorschein. Ihr Balkon blühte wieder.

Das Mietverhältnis

Achim und Beyene sitzen in der Küche, ihrer gemeinsamen Küche, und erzählen, wie sie sich vor anderthalb Jahren kennenlernten. Der eine schon im deutschen Ruhestand, mit einer großen und ruhigen Wohnung und viel Zeit. Der andere geflüchtet, hatte Eritrea verlassen, um sich auf den schweren Weg nach Deutschland zu machen. In seinem Heimatland gab es für ihn keine Zukunft. Unterschiedliche Herkunft, unterschiedliche Leben. Und doch haben sie gegenseitiges Vertrauen gewonnen. Beyene wohnt nun bei Achim zur Untermiete. Sie unterstützen sich gegenseitig im Alltag. Der eine sagt: „Das Schönste ist, wir öffnen unsere Herzen und lachen zusammen“ – und der andere nickt.

Die Glücksbringer

Ich habe Evelina gleich gemocht. Sie hat so viel Herz und strahlt so viel Wärme aus. Und das, obwohl sie ein schwieriges Jahr in einem Übergangswohnheim verbracht hat, mit Mann und drei Kindern auf engstem Raum. Ich kannte eine Journalistin, die bereit war, ein Interview mit ihnen zu führen. Es erschien in der Lokalzeitung und entpuppte sich als Wendepunkt. Ein Vermieter meldete sich, bot ihr nicht nur eine Wohnung an, sondern regelte im Job-Center die Wohngeldfrage und senkte sogar den Mietpreis. Evelina sagt immer wieder: „Unglaublich!“ Nur Arbeit fehlt dem Ehepaar noch. Ob noch weitere Glücksbringer auf den Plan kommen?

Menschliches

Ihr Alter nahm man Marianne nicht unbedingt ab, ging sie doch regelmäßig schwimmen und erledigte mehr, als sie musste. Doch dann kam Corona samt Abstandsregeln, Maskenpflicht und ständiger Angst vor dem Virus. Das Leben wurde digitaler, der Schwimmbad-Besuch war nur noch mit Onlinebuchung möglich. Marianne fühlte sich abgehängt und noch trauriger, als im kalten Winter plötzlich ihr alter Fernseher streikte. Zum Glück gab es Hendrik, einen Ehrenamtlichen mit leichter geistiger Beeinträchtigung, der von Mariannes Lage hörte. Er kaufte ihr ein neues Gerät und half, bis sie alles selbst bedienen konnte. „Mir ist in dieser unmenschlichen Zeit Menschlichkeit widerfahren“, sagte Marianne.

Eine Stufe weiter

Die neueste Technik beherrschen, dazu fehlte ihm der Sinn. Wieso auch, er mit seinen 84 Jahren! Aber dann kam der Lockdown, er war Wittwer geworden, allein in einem Haus, und in der Zeitung stand, man könne einen geflüchteten Menschen treffen – aber nur wenn man Zoom habe. Die freundliche, geduldige Frau in der Freiwilligenagentur erklärte ihm telefonisch, wie das ging. So lernte er einen jungen Mann kennen, dem er, sobald Corona es zuließ, die Bibliothek zeigte. Um dessen Deutsch zu verbessern, schlug der alte Herr vor, sich Gedichte vorzulesen, draußen an der frischen Luft. „Stufen“ von Hermann Hesse mochten sie beide.

Die Erwiderung

Herr Mohammed, vor zwei Jahren mit seiner Familie aus dem Iran hierher gekommen, hat schnell die deutsche Sprache gelernt. Da war ja schließlich Herr Maier. Was auch immer Herr Mohammed vorhatte – den Führerschein erwerben, einen Mini-Job finden, für seine Familie eine eigene Wohnung beziehen –, Herr Maier stand mit Rat und Tat zur Seite. Alles andere als selbstverständlich und unbezahlbar. Als Corona ausbrach, wollte Herr Mohammed gemeinsam mit seiner Frau den Menschen vor Ort etwas zurückgeben. Über mehrere Monate in der Pandemie lieferten sie ehrenamtlich Lebensmittel an Bedürftige aus. Die Familien Maier und Mohammed verbindet bis heute eine enge Freundschaft.

Weitersagen

Nachdem in der Flüchtlingsunterkunft, die er sein Zuhause nannte, Corona ausgebrochen war, wurde der junge Mann verlegt. In eine neue Unterkunft in einer neuen Stadt, wo er niemanden kannte – bis ihm die Freiwilligenagentur eine sehr nette Frau vermittelte, mit der er sich regelmäßig verabreden konnte, mal online, mal im Park zu Spaziergängen. Je mehr sie sich austauschten, desto besser wurden seine Deutschkenntnisse. Selbstbewusster geworden, wusste er auch mehr, wo er war und wo er hinwollte. So dankbar und überzeugt von dieser Erfahrung, stiftete er die anderen in der Unterkunft an, eine Patenschaft zu suchen und sich verbinden zu lassen.

Der Vermittler

Seine Kollegen redeten schlecht über Geflüchtete. Als Kriminalbeamte erkannten sie in ihnen – Kriminelle. Ein Urteil, das Matthias nicht hinnehmen wollte. Er kam in Kontakt mit einem jungen Syrer und dessen Freunden. Alles freundliche, ehrliche, dankbare Menschen, die genau spürten, welcher Hass ihnen entgegenschlägt. Sonst nur mit Deutschen vertraut, merkte er, wie viele Gemeinsamkeiten es gibt. Erst hielt er seine Patenschaft geheim, es würden Spitzen kommen. Aber dann erzählte er den Kollegen davon. Sie reagierten erwartbar, abschätzig. Doch sie hörten auch zu. Heute kommen manche von selbst auf Matthias zu – neugierig zu erfahren, wie er bestimmte Einsatzsituationen mit Geflüchteten verstehen würde.

Der Gegenzug

Beim Blick in den Einkaufswagen war ihr unwohl. Lauter Produkte, die sie selbst nie essen würde. Sie und Fleisch!? Schauten die Leute deshalb so komisch? So dachte Marie, als sie das erste Mal für die alte Dame einkaufte. Solidarisch sein im Lockdown, das war gar nicht so einfach. Doch je öfter sie sich mit der fremden Frau unterhielt, desto gleichgültiger wurde, was andere dachten und was die Dame aß. Nur die Bio-Eier hat Marie durchgedrückt, die Freiheit nahm sie sich. Sie bekam dafür einen Rückenkratzer geschenkt. Erst befremdet, fragte sich Marie bald, wie sie bisher ohne dieses Gerät leben konnte.

Der Kopfstoß

Ein einziger Gedanke beherrscht mich: „Oh Gott, wie soll ich meinen Mentee ansprechen, wenn er kein Deutsch kann?“ Nervös trete ich von einem Fuß auf den anderen, ich wühle in den Hosentaschen, während sich die Person immer weiter nähert. Fast angekommen, ziehe ich ruckartig ich meine Hand hervor und reiße mein Handy mit, das herabfällt. Es bleibt heile – uff. Als wir uns gleichzeitig bücken, stoßen unsere Köpfe zusammen. Wir lachen beide – das Eis ist gebrochen. Über eine Übersetzer-App stellen wir uns vor. Beim nächsten Spaziergang haben wir beide ein Heft mit, um spontan Wörter festzuhalten. Auch ich bin nun Lernende.

Die Prüfung

Warum wollte sie nicht verstehen, wie wichtig diese Prüfung war? Warum lehnte sie alle meine Vorschläge, ihr zu helfen, ab? Ich meine es doch gut mit ihr! In diesen Minuten, da sie ihre Prüfung absolviert, ist mir unwohl, ich zweifle, hadere. Mit der Zeit war sie mir doch so wichtig geworden, liebgewonnen wie eine Tochter. Ich schrecke auf, es klingelt, sie überglücklich, ich kann ihr Lächeln durch das Telefon hören. Sie hat es geschafft – auf ihre Art. Sie wusste selbst, was sie wie und wann am besten lernt. Ich muss lernen, ihr mehr zu vertrauen, und auch, ihr mehr zuzutrauen.

Im Müll

Mit Bollerwagen, Müllsack und Greifzange laufe ich am Freiwilligentag mit anderen den Fluss entlang. Die Menge des „unsichtbaren“ Mülls ist unglaublich. Zigarettenstummel und Flaschen laden ein, zu denken: Na, wer hat sich hier mal wieder ausgelebt? Doch nachdem ich kurz innehalte, siegt die Selbsterkenntnis: Achtung, Vorurteil! Nein, so unterschiedlich sind wir nicht. Bei manch einem Fundstück schauen wir uns an, grinsen und lassen unserer Fantasie freien Lauf. Bei manch anderen schütteln wir angewidert den Kopf. Müde, aber mit einem Gefühl der Verbundenheit teilen wir in der Pause Snacks. „Abdul, kommst du mit zum Fußballspielen?“ Ich gehe beschwingt in meine Unterkunft.

Die bloße Gegenwart

„Nehmen Sie Platz“, bittet die Frau am Empfangstresen. „Eigentlich recht freundlich”, kommentiere ich sie leise, als wir uns setzen. „Dabei ist es dieselbe Frau”, flüstert Nael mit seinem arabischem Akzent zurück. Zaghaft hatte er mich gefragt, ob ich ihn begleiten würde. Gestern war er unwirsch abgewiesen worden, als er seine Schussverletzungen behandeln lassen wollte. Sie schmerzen immer noch, auch lange nach seiner Flucht. Nael zuckt die Schultern und lächelt traurig. „Beim Amt oder auf der Straße, wenn ich alleine bin, ist es genauso.” Unfassbar, denke ich. Dass meine bloße Präsenz einen solchen Unterschied im Leben eines anderen Menschen machen kann.

Erste Schritte

Alles ist anders, seit ihr Mann gestorben ist. Helga, eine kinderlose Rentnerin, ist viel allein, vermisst eine Aufgabe und vor allem Kontakte. Gerne würde sie sich um jemanden kümmern, sich unterhalten. Aber vielleicht lieber mit jüngeren Menschen. Vielleicht mit Studenten oder Migranten. „Die schauen mehr nach vorne“, meint sie. Wir finden Dina. Dina aus Mazedonien. Ihr Studienkolleg findet aktuell nur online statt. Gerne würde sie sich mit jemandem unterhalten und ihr Alltagsdeutsch verbessern. Noch geht das nur draußen, bei einem Spaziergang. Aber bald, so sind sich beide sicher, werden sie sich auch mal zusammen kochen oder uns im Kino treffen.

Der Übergang

Nelly ist Mitte 20 und stolz, als Rollifahrerin mit Mehrfachbehinderung ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Im Alltag Bürokauffrau in einem kleinen Unternehmen, würde sie sich nach Feierabend aber mal mit Gleichaltrigen verabreden, shoppen, was essen gehen oder zum Konzert. Nele und Selma sehen sich das erste Mal digital bei zoom@beratung. Selma studiert Kunst, wohnt in einer WG und ist neugierig auf neue Erfahrungen. Corona schränkt die Möglichkeiten zwar ein, aber Donnerstag treffen sie sich in der Stadt. Bei „windowshopping“ und „coffee to go“ schmieden sie Pläne für ihre neue Normalität und was sie zusammen unternehmen könnten, wenn die Einschränkungen vorüber sind.