Von „hermeneutischem Wohlwollen“ und „dritten Orten“: Einsichten aus unserem Digitaltalk am 28. Januar 2025
Spätestens nach dem 7. Oktober 2023 wurde der sogenannten Nahostkonflikt zu einem Thema, das stark polarisiert und verunsichert. Die Bilder von Gewalt sind intensiv und die Fronten so verhärtet, wie sie es lange nicht waren. Das macht auch vor der Arbeit in Freiwilligenagenturen nicht halt, weil der Konflikt auch das vielfältige Publikum in Beratungen, Projekten oder Veranstaltungen ebenso bewegt wie die Kolleg:innen im Team. Diese Sprachlosigkeit zu überwinden ist ein wichtiges Ziel, um weiterhin im Austausch zu bleiben und sich nicht in die eigenen Filterblasen zurückzuziehen.

Was können wir also vom Sprechen über Israel, Palästina und den Konflikt lernen, mitnehmen und übertragen? Gerade in Zeiten, wo weitere Themen wie Migration, Rechtsextremismus oder soziale Ungleichheit unsere Gesellschaft zunehmend polarisieren und so Austausch erschweren?
Diesen Fragen gingen wir am 28. Januar 2025 in den ersten „55 Minuten“ des Jahres mit dem Sozialunternehmer und Aktivisten Shai Hoffmann nach. Zusammen mit seiner Kollegin Jouanna Hassoun und dem Team von „Gesellschaft in Wandel“ führt er in Schulen Trialoge zum Thema Israel und Palästina durch.
In unserem Digitaltalk mit rund 60 Teilnehmenden gab er Einblicke in diese multiperspektivischen Austauschrunden. Eine Schlussfolgerung aus der Arbeit mit Schüler:innen: Mit einer verstehenden Haltung und einem persönlichen Bezug, lassen sich Räume für Austausch eröffnen – auch bei schwierigen Themen und vermeintlicher Sprachlosigkeit.
Der Digitaltalk ist hier zum Nachhören auf unserem YouTube-Kanal zu finden.
Außerdem haben wir 5 zentrale Einsichten aus dem Gespräch mit Shai Hoffmann in dieser Kurzdokumentation festgehalten:
1. Statt Themen und Konflikte auszublenden, braucht es Räume in denen persönliche Erfahrungen und Biografien Platz haben
Zu Beginn des Gesprächs teilte Shai Hoffmann einen Eindruck: Der Konflikt in Israel und Palästina führe dazu, dass dieses Thema nicht mehr in Schulklassen verhandelt werde – etwa weil die Lehrkräfte unsicher sind. Aus diesem Grund entwickelte Hoffmann mit seiner Kollegin Jouanna Hassoun das Format der Trialoge. Ein sogenanntes Trialog-Tandem besucht eine Schulklasse. Beide Teile haben jeweils selbst einen jüdisch-israelischen oder palästinensischen Hintergrund. So werde eine persönliche Brücke zu den Schüler:innen geschlagen. In den multiperspektivischen Austauschrunden kommen sie so gemeinsam ins Gespräch: Biografien, Gedanken und eigene Erfahrungen haben hier einen Platz.
Wie Hoffmann berichtet, seien die Trialoge oftmals der erste Raum für Schüler:innen, in dem abseits von Social Media und einem Positionierungsdruck über Israel und Palästina gesprochen werde. Die „De-Thematisierung“ des Konflikts durch Lehrer:innen sieht er daher kritisch. Vielmehr zeige sich, dass der offene Austausch bei den Schüler:innen etwas in Bewegung setze. Diese Begeisterung für Menschen, sie zu verstehen und ihnen offen gegenüberzutreten, nennt Hoffmann als eine zentrale Motivation für seine Arbeit.
2. Für Begegnung und Austausch – auch über konträre Positionen hinaus – braucht es eine verstehende und fragende Haltung.
Zu Beginn des Gesprächs teilte Shai Hoffmann einen Eindruck: Der Konflikt in Israel und Palästina führe dazu, dass dieses Thema nicht mehr in Schulklassen verhandelt werde – etwa weil die Lehrkräfte unsicher sind. Aus diesem Grund entwickelte Hoffmann mit seiner Kollegin Jouanna Hassoun das Format der Trialoge. Ein sogenanntes Trialog-Tandem besucht eine Schulklasse. Beide Teile haben jeweils selbst einen jüdisch-israelischen oder palästinensischen Hintergrund. So werde eine persönliche Brücke zu den Schüler:innen geschlagen. In den multiperspektivischen Austauschrunden kommen sie so gemeinsam ins Gespräch: Biografien, Gedanken und eigene Erfahrungen haben hier einen Platz.
3. Orte für Austausch – Abseits der politischen Debatten – sind wichtig, um der Polarisierung entgegenzuwirken.
Mit dem „Bus der Begegnung“ reiste der Sozialunternehmer im Zuge der Bundestagswahlen 2017 drei Wochen durch Deutschland. Laut Hoffmann mit einem klaren Ziel: Raus aus den Filterbubbles, rein in die Begegnung. So wollte er etwa verstehen, wie sich Menschen in Nordrhein-Westfalen oder Thüringen eine Zukunft mit Geflüchteten oder mit ihm als jüdischen Menschen vorstellen. Im Digitaltalk teilte er zwei Learnings aus diesen Begegnungen: Erstens, wenn es Kaffee umsonst gebe, kommen Menschen zusammen und somit ins Gespräch. Und zweitens: Durch Austausch und Begegnung bilde sich eine geteilte Basis – denn ein Erfolgsfaktor seien gemeinsame Aktionen und Erlebnisse.
Daher plädiert Hoffmann für „dritte Orte“ Abseits der politischen Dimension. Hier hätten Menschen die Möglichkeit gemeinsame Perspektiven zu schaffen. Dies könne eine Tischtennisplatte sein, oder aber Engagement. Den Kolleg:innen aus den Freiwilligenagenturen empfehle der Aktivist daher, den Menschen möglichst mitfühlend und empathisch gegenüberzutreten. Bei schwierigen Diskussionen zeige sich häufig eine starke Ungeduld. Aber Hoffmann macht deutlich: Nicht jede Person habe die gleichen Ressourcen und Voraussetzungen, sich mit komplexen Sachlagen zu beschäftigen. Man müsse anerkennen, dass Menschen sich einfache Antworten wünschen – Demokratie sei eben „harte Arbeit“, wie Shai Hoffmann ausführt.
4. Aus der deutschen Erinnerungskultur und Leitsätzen wie „Nie wieder“ muss mehr entstehen als Rituale
Mit Blick auf die politische Situation in Deutschland, zeigt sich Shai Hoffmann auch wütend über den aktuellen Diskurs. Vor allem werde nach Anschlägen wie etwa in Aschaffenburg zu wenig auf die Hintergründe geblickt. Systemische Fragen würden nicht zum Zuge kommen und so Komplexität ausgeblendet. Er kritisiert, dass Politiker:innen aktuelle Ereignisse so für ihre migrationsfeindlichen Debatten instrumentalisierten. Das 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz über eine mögliche Ausbürgerung von Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft gesprochen werden kann, findet Hoffmann indiskutabel.
In Anbetracht des Slogans „Nie Wieder“, der zum Holocaust Gedenktag am 27. Januar auch in diesem Jahr häufig genutzt wurde, sieht der Aktivist daher die Ritualisierung der Erinnerungskultur kritisch: Auch die Asylpolitik von heute müsste durch die schrecklichen Erfahrungen des Holocausts geprägt werden – trotzdem zeigt sich rassistische und migrationsfeindliche Politik stärker denn je. Der Satz „nie wieder“ werde so untergraben und keine Schlussfolgerungen aus dem Gedenken an den Holocaust gezogen.
5. Engagement ist ein „Kleber unserer Gesellschaft“, aber auch hier zeigen sich Grautöne
„Freiwillig Engagierte sind der Kleber unserer Gesellschaft“, sagte Shai Hoffmann zum Abschluss des Digitaltalks. Freiwillige verdienten großen Respekt – daher bräuchte es für Engagement und dessen Förderung ausreichend Ressourcen und Anerkennung – und nicht nur Applaus während der Corona-Pandemie. Mit Blick auf die Freiwilligenagenturen rät der Sozialunternehmer auch in der Beratung von Engagierten empathisch zu bleiben. In Zeiten, wo Fragestellungen immer komplexer werden, müsste auch hier die Bereitschaft vorhanden sein, Zwischen- und Grautöne zu erkennen – auch wenn dies ein Ringen mit den eigenen Positionen bedeute. Hoffmann verdeutlicht: Nur mit einer verstehenden Grundhaltung lasse sich die Polarisierung in der Gesellschaft und somit auch Sprachlosigkeit überwinden.
Zur Person
Shai Hoffmann ist ehemaliger Schauspieler und heute Sozialunternehmer und Aktivist mit israelischen Wurzeln. Nach dem 7. Oktober 2023 hat er sich dem Thema Israel und Palästina auf verschiedene Weisen angenähert und für eine multiperspektivische Debatte gesorgt, sei es über den Podcast „Über Israel und Palästina sprechen“, in dem vor allem Expert:innen zu Wort kommen, im Tiny House mit beliebigen Passant:innen oder gemeinsam mit seiner Kollegin Jouanna Hassoun und dem Team von „Gesellschaft im Wandel“ im Format „Trialoge“ an Schulen.
Mehr Infos: https://shaihoffmann.de/ | https://www.gesellschaftimwandel.org/
