Vielfalt, Engagement und Anpacken als Gegenstrategie zu Ohnmacht und Rechtsextremismus: Einsichten aus unserem Digitaltalk am 26. September 2024
Die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September 2024 haben allen offenbart, wovor Expert:innen schon lange gewarnt haben: Rechtsextreme Positionen und Aussagen zeigen sich in allen Gesellschafts- und Lebensbereichen. In kommunalen Gremien, aber auch in Vereinen, in der Nachbarschaft, im Engagement und im Lebensalltag werden immer deutlicher rechtsextreme Narrative bedient.
Dies stellt alle demokratischen Kräfte und zivilgesellschaftliche Organisationen vor zunehmende Herausforderungen – auch die Freiwilligenagenturen. Ein aktives Handeln ist erforderlich, vor allem wenn rechtsextreme Narrative in Bedrohung und direkte Gewalt umschlagen.
Wie man mit dieser Entwicklung umgehen, stark bleiben und sich eventuell noch besser organisieren kann, diskutierten wir gemeinsam mit Prof. Dr. Matthias Quent in unserem Format „55 Minuten“. In dem Digitaltalk bestärkte er Freiwilligenagenturen und andere zivilgesellschaftliche Akteure in ihrem Handeln – denn hier entstehen die demokratischen Kräfte gegen einen weiteren Anstieg rechtsextremen Gedankenguts.
Der Digitaltalk ist hier zum Nachhören auf unserem YouTube-Kanal zu finden.
Zentrale Einsichten zu den spannenden „55 Minuten“ mit Prof. Dr. Matthias Quent haben wir in dieser Kurzdokumentation festgehalten:
1: „Die größte Herausforderung ist, sich weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen“
Mit dieser an ein Zitat von Theodor W. Adorno angelehnten Aussage möchte Prof. Dr. Matthias Quent alle Freiwilligen ermuntern, ihr Engagement als Mittel zu mehr Resilienz und Selbstwirksamkeit zu begreifen. Auch bei ihm kämen manchmal Selbstzweifel auf, so ginge es wohl vielen angesichts der Entwicklung. Umso wichtiger sei es, Menschen durch konkretes Handeln im Engagement wieder einen Weg zur eigenen gesellschaftlichen Gestaltungskraft zu zeigen. Naivität im Umgang mit Rechtsextremismus sei aber nicht angebracht, sondern eine gezielte Auseinandersetzung mit dessen Strukturen. Das derzeitig politische Chaos hätte verhindert werden können, wenn man sich klar und gezielt auf die zu erwartenden Wahlergebnisse und deren Folgen eingestellt hätte. Die noch größere Aufgabe ist laut Quent aber, mit den Menschen im eigenen Umfeld umzugehen, die sich für rechtsextreme Haltungen entschieden hätten. Um dies zu erkennen und auch etwas entgegenzuhalten, können sich Engagierte und Freiwilligenagenturen mit etablierten Beratungsstrukturen und Angeboten der Mobilen Beratung, Aktion Zivilcourage, des Netzwerks für Demokratie und Courage oder der Amadeu Antonio Stiftung stark machen.
2: Die vermeintlich „guten alten Zeiten“ waren nicht besser – statt Nostalgie sollten wir für progressivere Zeiten arbeiten.
Rechtsextreme Akteure besinnen sich laut Matthias Quent auf ein vermeintliches Narrativ der „alten Werte“ und „guten alten Zeit“. Ähnlich neigten auch Verfechter:innen einer liberalen Demokratie manchmal zu einer Verklärung der Vergangenheit, in der es nicht so schlimm gewesen sei. Fakt sei aber, dass schon immer rechtsextremes Gedankengut und Anhänger:innen zu beobachten waren – in West und Ost. Folgt man dem Soziologieprofessor, bewege sich dessen Zustimmung in Wellen. Gerade befänden wir uns auf einer Wellenspitze, aber gemeinsam kann man den Weg zu einer weiteren liberalen und progressiven Entwicklung gewinnen. Wichtig sei hierbei eine stabile Verankerung der Menschen im privaten und gesellschaftlichen Umfeld, wozu auch Engagement ein wichtiges Mittel darstelle. Die nächsten Jahre seien entscheidend: Daher richtet Quent auch eine Mahnung an die Politik, etwa durch eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts die zivilgesellschaftlichen Organisationen und Infrastrukturen des Engagements zu schützen.
3: Es gibt nicht nur die eine Antwort auf Herausforderungen: Vielfalt ist ein Erfolg demokratischer Gesellschaften
Rechtsextremismus stelle eine Bewegung gegen Modernisierung und gegen Liberalisierung dar, so Prof. Quent. Dieser besetze konservative Themen, mit dem eigentlichen Ziel, emanzipatorische gesellschaftliche Entwicklungen zu revidieren. Dabei gilt zum einen eine Ungleichzeitigkeit: Durch Anrufung der Vergangenheit versuchten rechtsextreme Akteure aktuelle Veränderungen zu skandalisieren oder Erfolge, wie beispielsweise die Emanzipation queerer Gruppen oder Klimaschutz, wieder auf null zu setzen. Damit verbunden ist auch eine Ungleichheit, in der man sich z.B. von der globalen Verantwortung für die Folgen des Klimawandels freispreche und unsolidarisch verhalte. Doch Matthias Quent zeigt auch eine Gegenstrategie auf: Indem Menschen durch Engagement zusammenkommen, könnten sie sich für ihre Themen, verschiedene Zielgruppen und Vielfalt stark machen und so den gesellschaftlichen Diskurs prägen.
4: Gesellschaft braucht die Geschichten über Engagement und Anpacken
Freiwilligenagenturen sollten sich mit ihren Themen und Engagementmöglichkeiten nicht zurückziehen, sondern gemeinsam mit Freiwilligen eine positive Stimmung des Anpackens erzeugen, skizziert der Soziologe. So könne dem „Brüllen“ und destruktiven Politik von rechtsextremen Anhänger:innen etwas entgegengesetzt werden. Denn Quent unterstreicht: Es sei den progressiven Bewegungen in den letzten Jahren gelungen, sich stark in der Gesellschaft zu verankern – auch wenn wir es derzeit nicht so wahrnehmen würden. Am Beispiel Polen zeige sich etwa, dass die Dynamik von rechtsextremem Gedankengut und Politik auch umkehrbar sei.
5: Rechtsextremismus ist kein rein ostdeutsches Problem
Auch wir in Deutschland seien Teil einer globalen Entwicklung und sollten davon absehen, Rechtextremismus zu regionalisieren und als ostdeutsches Problem zu sehen – so lautet ein Appel von Prof. Dr. Quent. Wachsam bleiben und genau hinschauen sei in allen Teilen Deutschlands ein wichtiges Gebot. Gerade an Orten, wo rechtsextreme Akteure nicht Fuß fassen, ist dies laut Quent ein Ergebnis politischer Kultur und zivilgesellschaftlichen Engagements. Wir sollten eher dorthin schauen, wo rechtsextreme Gruppen und Parteien keine Macht haben und davon lernen, was es zu tun gibt.
6: Die eigenen progressiven Themen stark machen, statt überholte Haltungen zu propagandieren
Ein starker Schulterschluss zwischen Demokrat:innen sei wichtiger denn je. Dazu gehört laut Quent auch die eigenen Themen und die Interessen jener die man vertritt, wieder stärker nach vorne zu stellen. Die Zivilgesellschaft sollte es sich zur Aufgabe machen die eigenen Themen zu setzen: Etwa zur Klimafrage, zu sozialer Unsicherheit, Rechtsicherheit oder zum Thema Gemeinnützigkeitsrecht. Hierzu sei es auch nötig, mit allen demokratischen Parteien in den Austausch zu treten und seine Belange einzufordern. Hierbei sei die Brandmauer gegenüber Rechtextremismus wichtig, sie dürfe für Quent aber nicht eine Auseinandersetzung mit rechten Akteuren ausschließen. Hierzu gehöre auch, eine Auseinandersetzung mit diesen in Gremien der Kommunal-, Landes- oder Bundespolitik – auch wenn man auf eigenen Veranstaltungen Rechtsextremist:innen keine Bühne bieten sollte. Dies erfordere manchmal den direkten und konfrontativen Diskurs und die eigene Defensive zu verlassen.
Fazit: Was Freiwilligenagenturen tun können
Freiwilligenagenturen sollten neben dem Einsatz für die Themen weiter engagierte Räume öffnen und gestalten, vor allem für junge Menschen. Dies ist laut Quent auch ein Learning aus den sogenannten „Baseballschlägerjahren“ der 1990er. Durch die Öffnung alternativer (Begegnungs-) Räume konnte dem steigenden Rechtsextremismus unter Jugendlichen positiv entgegentreten werden. Quent plädiert auch dafür, sich für Migration, geflüchtete Menschen, queere Gruppen und Emanzipation weiter zu engagieren und den Themen, die Rechtsextreme einfordern, weniger Raum zu geben. Aufgabe der Politik sei es auch, diese Strukturen weiter zu unterstützen. Neben nachhaltiger Finanzierung gehöre hierzu auch die dringend notwendige Reform des Gemeinnützigkeitsrechts. Zum Abschluss formulierte Quent noch eine Ermutigung: Wir müssten gemeinsam und kooperativ versuchen, kreative, innovative Lösungen zu finden, um die Gesellschaft mit Engagement positiv zu prägen. Und eventuell auch selbst einmal für diese Anliegen in die Politik gehen.
Zur Person:
Matthias Quent ist Professor für Soziologie und Vorstandsvorsitzender des Instituts für demokratische Kultur an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Er ist 1986 in Thüringen geboren und aufgewachsen und kennt rechtextreme Gewalt aus eigener Erfahrung. Er ist Berater, Experte und Gutachter in zahlreichen Gremien, 2022 wurde er in die Sachverständigen Kommission zur Erstellung des vierten Engagement Berichts der Bundesregierung berufen. Mehr unter http://www.matthias-quent.de/
Zum Hintergrund:
2024 ist die bagfa Partnerin der Deutschen Stiftung Engagement und Ehrenamt DSEE im Bundesprojekt „Schutz- und Präventionsnetzwerk für das Ehrenamt SPE“, gefördert durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat. Mehr Informationen sind hier zu finden oder hier direkt auf der bagfa-Website.