Statt Schulterklopfen auf Ungleichheit, Schwellen und Ausgrenzung im Engagement eingehen. Einsichten aus unserem Digitaltalk am 13. Mai 2025
Menschen haben in unserer Gesellschaft stark unterschiedliche Lebenschancen. Diese Ungleichheit schlägt sich auch im Engagement nieder. Wie der jüngst erschienene Vierte Engagementbericht zeigt, sind Zugangschancen zu freiwilliger Betätigung alles andere als gleich verteilt. Unsere Welt ist in dieser Hinsicht keine bessere. Im Gegenteil: Wie eine aktuelle Analyse erläutert, werden im Engagement Privilegien reproduziert.

Wie können wir mit diesem „Schmerzpunkt“ umgehen? Und wie sehen mögliche Wege aus, um Zugangschancen im Engagement abzubauen? Über diese und viele weitere Fragen sprachen wir vor rund 60 Zuhöher:innen mit Prof. Dr. Chantal Munsch in unserer Reihe „55 Minuten“ am 13. Mai 2025. Die Vorsitzende der Sachverständigenkommissionen zum Vierten Engagementbericht gab dabei Einblicke in die Kommissionsarbeit und verdeutlichte: Statt einfacher Tools braucht es eine dauerhafte Auseinandersetzung mit Ausgrenzung, Schwellen und Zugangschancen im Engagement. Diese und weitere prägende Einsichten aus dem Digitaltalk haben wir in dieser Kurzdokumentation festgehalten.
Der Digitaltalk ist hier zum Nachhören auf unserem YouTube-Kanal zu finden.
1. Engagement ist Teil einer ungleichen Gesellschaft – die Lebensrealität eines Menschen prägt hierbei die Zugangschance zu einer freiwilligen Tätigkeit.
Laut Prof.in Dr.in Chantal Munsch prägen die vier Dimensionen Einkommen, Bildungsabschlüssen, Staatsbürgerschaft und Erwerbstätigkeit die Zugangschancen zu einem Engagement im hohen Maße. So zeigen die Zahlen, dass sich etwa Menschen mit einem Einkommen unter 1.000 € deutlich seltener engagieren als Menschen mit hohen finanziellen Ressourcen. Solche Lebensrealitäten schaffen Schwellen zum Engagement, so die Professorin. Diese seien nicht unüberwindbar, erschwerten aber gesellschaftliche Gestaltung und Teilhabe. Engagement sei somit Teil einer ungleichen Gesellschaft, in dem sich Privilegien reproduzieren. Dies gelte für fast alle Engagementbereiche, im Sport ebenso wie in der Bildung. Insgesamt seien allerdings die Zusammenhänge zwischen Ungleichheit und Engagement noch wenig erforscht.
Bei der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) stellte Prof.in Dr.in Chantal Munsch den Vierten Engagementbericht ausführlich vor. Ein Videomitschnitt des Vortrags ist hier auf YouTube zu finden. Dort finden sich auch Grafiken zu den Zahlen, die wir hier nur andeuten können.
2. „Neue Organisationen“ vertreten nicht nur die Interessen von Menschen, sondern möchten in der Gesellschaft Gehör finden.
Besonders wenn Menschen ihre Ideen und Vorstellung nicht einbringen können, so Chantal Munsch, sei dies ein Problem für unsere Gesellschaft. Dabei sei es völlig in Ordnung, wenn sich nicht jeder engagieren möchte. Doch der vorhandene Pluralismus der Lebensweisen und Milieus dürfe nicht Ausgrenzung verdecken, denn alle Menschen sollten die gleichen Chancen haben, die Gesellschaft gestalten zu können.
Hierzu berichtet die Professorin aus der Arbeit der Sachverständigenkommission zum Vierten Engagementbericht. In den Anhörungen teilten auch „neue Organisationen“ ihre Perspektive. Diese vertreten Menschen, die von Armut und Rassismus betroffen sind oder eine Behinderung haben. Doch neben dieser Interessensvertretung möchten die Selbstorganisationen auch ihre Stimme einbringen und in der Gesellschaft Gehör finden – etwas, was den „etablierten“ Organisationen deutlich leichter fällt. Daher plädiert der Engagementbericht auch für eine stärkere Förderung und Unterstützung dieser „neuen Organisationen“.
3. Im informellen Engagement zeigt sich deutlich weniger Ungleichheit, was etablierten Organisationen zu denken geben sollte.
Wie der Vierte Engagementbericht herausstelle, ist besonders der Bereich des informellen Engagements von deutlich weniger Ungleichheit geprägt. Die oben genannten Dimensionen zeigen außerhalb von Organisationen und Vereinen einen deutlichen geringeren Einfluss auf die Engagementquote. Dies gelte etwa für den sogenannten „Migrationshintergrund“ von Engagierten, auch wenn dieser Begriff kritisch hinterfragt werden müsse. Für die klassischen Organisationen, etwa Vereine, halten informelle Engagementformen Lerneffekte bereit, etwa wenn es um den Abbau von Ungleichheiten geht. Trotzdem bleiben die formellen Organisationsstrukturen ein wichtiger Rahmen für Engagement in der Öffentlichkeit und Gesellschaft.
4. Wir sollten nicht nur auf die positiven Seiten von Engagement blicken, sondern auch über Ausschlüsse, Ausgrenzung und Schwellen in den eigenen Kontexten sprechen.
Der Engagementbereich, so sei ihr und anderen Kommissionsmitgliedern in Anhörungen aufgefallen, ist geprägt von einer hohen Ernsthaftigkeit, besonders wenn es um Demokratie, Aushandlung und Diskussion geht. Das stereotype Bild vom Engagement von Menschen, „die zu viel Zeit haben und helfen“ sei längst überholt. Wie Chantal Munsch ausführt, werde trotzdem zu häufig ein positives Bild des Engagements gezeichnet, eher das fokussiere, was in der Gesellschaft positiv bewegt wird. Dies lenke jedoch von auch negativen Aspekten wie ungleichen Zugangschancen ab. Die Professorin der Universität Siegen plädiert vielmehr dafür, sich auch über Momente der Ausgrenzung und ausschließende Mechanismen innerhalb der Engagementstrukturen kritisch auseinanderzusetzen. So spielten etwa Sprechweisen, also wie über etwas und über was genau gesprochen wird, oder ein bestimmter Habitus eine wichtige Rolle, ob sich Menschen in einem Engagementkontext angenommen und eingebunden fühlen – oder nicht.
5. Es gibt keine einfache Antwort, wie sich Schwellen zu einem Engagement abbauen lassen, sondern es braucht einen dauerhaften Lernprozess in den eigenen Strukturen.
Chantal Munsch berichtet, sie werde oft um ganz praktische Tools gebeten, wie man inklusiver und diverser werden könne. Doch rufe sie stets dazu auf, sich nicht an einfachen Checklisten zu orientieren, sondern sich vor allem selbst und immer wieder neu für das Phänomen zu sensibilisieren. Um ein umfangreiches Verständnis von gesellschaftlicher und sozialer Ungleichheit zu erlangen, brauche es eine dauerhafte Auseinandersetzung mit Ausschlüssen und Ausgrenzung. Hilfreich ist, im Sinne einer „Perspektivität“, wie Chantal Munsch es nennt, die eigene Welt und die Räume, die man als Engagementförderer:innen anbietet, mit den Augen von Menschen wahrzunehmen, die von Armut, Rassismus oder Behinderungen betroffen sind, und auch über Gespräche mit ihnen die eigene Organisationsstruktur zu beleuchten. Das sei ein besonders wichtiger Weg, mögliche Schwellen zuerst zu erkennen, um sie danach abbauen zu können.
Zur Person
Prof.in Dr.in Chantal Munsch lehrt Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Universität Siegen und forscht unter anderem zu Partizipation, bürgerschaftliches Engagement und Gemeinwesenarbeit. Aufgrund ihrer langjährigen Forschung etwa zu „bindenden und abträglichen Erfahrungen im Engagement“ beauftragte sie das BMFSFJ mit der Leitung der Kommission, die den Engagementbericht über „Zugangschancen zum freiwilligen Engagement“ erarbeitet hat, hier einsehbar. Zu ihren jüngsten Publikationen gehört das gemeinsam mit Kollegen verfasste und hier frei zugängliche Buch „Engagement im Zwiespalt“.
