Eindrücke von der 25. bagfa-Jahrestagung vom 3. bis 5. Juni in Kassel
Nicht noch einmal dreieinhalb Jahre warten: So lautete ein Versprechen nach der letzten bagfa-Jahrestagung 2023 in Leipzig. Und dieses wurde eingelöst: Rund 180 Kolleg:innen sind der Einladung der winkenden Katze gefolgt und kamen vom 3. bis 5. Juni in Kassel zusammen, um gemeinsam das Denken, Handeln und Träumen in Freiwilligenagenturen in den Blick zu nehmen.
Groß und anders denken – diese Aufforderung klang angesichts der multiplen Krisen und gesellschaftlichen Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen – eher irritierend. Doch die Jahrestagung 2024 eröffnete Räume und ermöglichte Dialog, um über den Horizont zu blicken und zu überlegen, wie wir gemeinsam freiwilliges Engagement in unwegsamen Zeiten stärken können.
Unter dem Titel „Think Big!“ bot die diesjährige Jahrestagung im Kasseler Haus der Kirche und im Hallenbad Ost ein prall gefülltes Programm – immer begleitet von der „einladenden Katze“ als Glücksbringer. Neben Impulsen von Expert:innen teilten Kolleg:innen Erfahrungen aus der Praxis, es wurden aber auch innovative Projekte und Ideen zur Stärkung unserer Demokratie ausgezeichnet. Nicht zuletzt stand das gemeinsame Arbeiten im Fokus: Mit den „Kasseler Positionen“ arbeiteten und verabschiedeten die Teilnehmenden der Jahrestagung ein aktualisiertes Selbstverständnis der Freiwilligenagenturen, welches auch aktuelle gesellschaftliche und politische Dynamiken in den Blick nimmt.
Damit war die 25. bagfa-Jahrestagung nicht nur geprägt durch Lernen, Austausch, Wiedersehen und Kennenlernen, sondern auch durch praktische Zusammenarbeit, die sich im Handeln der Freiwilligenagenturen vor Ort nutzbar machen lässt.
Die Jahrestagung in Zahlen
Ein Blick auf die Zahlen der Jahrestagung: 180 Teilnehmende besuchten 14 Workshops, nahmen an 5 Stadtrundgängen teil, lauschten 3 Gesprächen und 2 Impulsen mit und von Expert:innen auf dem Podium, arbeiteten an 8 Positionen zu Freiwilligenagenturen, waren bei der Verleihung von insgesamt 12 Engagement- und Demokratiepreisen dabei, begleiteten 6 Übergaben des Bagfa-Qualitätssiegels, feierten das 25-jährige Jubiläum der bagfa bei einem Galaabend. Und so bewerteten die Kolleg:innen die Tagung: Auf einer Skala von 1 (nicht gut) bis 6 (sehr gut) vergaben die Teilnehmenden der Tagung 5,2 Punkte auf die Frage, wie ihnen die Tagung gefallen hat.
Stimmen aus der Evaluation
„Es war großartig, dass so viele tolle Frauen auf der Bühne und in Workshops waren, die kompetent und zielgerichtet sprachen, vermittelten, Diskussionen leiteten und führten.“
„Ein straff geplantes und inhaltliches intensives, aber gleichzeitig wunderbar abwechslungsreiches Programm! Vielen Dank!“
„Bezug zu Kassel und Hessen hat mir gut gefallen. Am nächsten Ort gerne auch wieder stark beteiligen, wer dort aktiv ist…“
„Vielen lieben Dank! Es war eine tolle Tagung, bestens organisiert, inspirierend und mit tollen Menschen!“
Aus dem Herzen der Republik: Tagungsstart mit ersten Denkanstößen aus Kassel und Hessen
Kassel sei die „glücklichste Stadt Deutschlands“ – zumindest, wenn man einem kürzlichen erschienen Städteranking folgt. Somit war die nordhessische Metropole als Ort der Jahrestagung bereits vor dem offiziellen Tagungsstart ein Volltreffer.
Die Moderatorinnen der 25. Tagung, Stefanie Fichter von der bagfa e.V. und Constanze Bartiromo von der LAGFA Hessen e.V., griffen dies dankbar auf, und auch Dr. Norbert Wett, Stadtrat für Bürgerangelegenheiten, Soziales, Digitalisierung und Tourismus in Kassel, ließ durchblicken, dass dieser glückliche Umstand auch etwas mit lebendigem Engagement zu tun habe. Engagement stärke die Demokratie, so der Stadtrat in seinem Grußwort. Dies sei umso wichtiger in Zeiten, in denen dieses Grundprinzip unseres Gemeinwesens nicht für alle selbstverständlich ist. Dankbar zeigte er sich auch in Richtung des Freiwilligenzentrums vor Ort, an dem er nicht zuletzt dessen Verankerung in der Zivilgesellschaft schätzte.
Carmen Mureşan, Leiterin des Freiwilligenzentrums Region Kassel, verdeutlichte einen möglichen Erfolgsfaktor einer der dienstältesten Freiwilligenagenturen in Deutschland: Von Anfang an habe es eine Vision über die Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements gegeben, die auch im Freiwilligenzentrum selbst gelebt wird. Für ihre eigene Situation als neue Leiterin des Zentrums hatte sie ein eindrucksvolles Bild parat, welches auch für den anstehenden Generationswechsel in vielen anderen Freiwilligenagenturen passen könnte: Es komme ihr vor, als würde sie ein Familienunternehmen übernehmen, ohne selbst zur Familie zu gehören.
Während die bagfa dieses Jahr ihr 25-jähriges Bestehen feiert, konnte die LAGFA Hessen e.V. ihr 15-jähriges Jubiläum begehen. Als eine Mitveranstalterin lud die Landesarbeitsgemeinschaft ebenfalls zu der Jahrestagung ein. Alexandra Böckel, eine Sprecherin der hessischen LAGFA, verwies auf eine Jubiläumsbroschüre, die Einblicke in unterschiedliche Handlungsfelder und neue Ansätze vorstellt, von Digitalisierung, Inklusion, Diversität über Nachhaltigkeit bis zu Nachbarschaft und jungem Engagement.
Eine hessische Besonderheit konnte Claudia Spruch präsentieren. Denn die vom Land Hessen getragene Landesehrenamtsagentur, deren Geschäftsführerin sie ist, sei die erste Einrichtung ihrer Art gewesen. Außerdem skizzierte sie die kooperative Ausrichtung in der Engagementförderung – ihr Fazit: Für manche Themen und Fragen sei eine solche staatliche Service- und Beratungsstelle gut geeignet, während andere Anliegen hingegen besser in der Zivilgesellschaft, etwa durch die lagfa, bearbeitet würden. Es gelte stets zu schauen, so Claudia Spruch, wer was besser machen könne.
Blieb noch Birgit Bursee als Vorstandsvorsitzende der bagfa e.V., die gleich einen Ausblick auf die nächsten 25 Jahre Bundesarbeitsgemeinschaft gab: Auch weiterhin werde die bagfa die Freiwilligenagenturen unterstützen und begleiten – was viel Bewegung erfordere, denn die Agenturen veränderten sich ebenso wie die Gesellschaft. Immer wieder sei auch die Lust am Ausprobieren gefordert, um diesen Veränderungen begegnen zu können. Gleichzeitig erinnerte die bagfa-Vorsitzende die Kolleg:innen daran, auch in unruhigen Zeiten gelassen zu bleiben, denn in Hektik auszubrechen helfe selten weiter.
Damit war die Jahrestagung eröffnet – zum Nachdenken und nicht zuletzt zum „hemmungslosen Netzwerken“ – wie die Moderatorinnen betonten.
Mit einem „Heterogenitätsschub“ für mehr Empathie und Austausch: Im Gespräch mit Prof. Dr. Wolfgang Schroeder
Den Blick von Kassel auf die gesamte (Zivil-)Gesellschaft lenken. Genau das ist im Gespräch zwischen Prof. Dr. Wolfgang Schröder und Lena Blum, Leiterin der Freiwilligenagentur Bremen geschehen. Schroeder ist Professor für das Politische System der BRD und Staatlichkeit im Wandel an der Universität Kassel und Vorsitzender des Progressiven Zentrums.
Zu seinen Forschungsthemen gehört neben der sozialökologischen Transformation auch die Analyse von rechtsextremistischen und -populistischen Akteuren. Die von diesen Akteuren ausgehende Gefahr stellt laut Schroeder eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft sowie die Zivilgesellschaft dar. Die AfD etwa sei die erste „Internet-Partei“, der es gelungen sei, vor allem im digitalen Raum zu mobilisieren. Hier zeige sich, dass sich die Partei nicht in den klassischen Konfliktlinien („Cleavages“) unserer Gesellschaft verorten lasse.
Rechte Akteure versuchten auch die Zivilgesellschaft zu beeinflussen. Das tun sie entweder, indem sie Organisationen gezielt unterwandern, oder durch den Aufbau von eigenen „Gegenstrukturen“, wie etwa Suppenküchen. Bisher ist es laut Schroeder allerdings nicht gelungen, in die organisierte Zivilgesellschaft einzudringen – diese sei „imprägniert“ gegenüber rechtsgerichtetem Gedankengut. Trotzdem müssten zivilgesellschaftliche Organisationen für Infiltration sensibilisiert werden und die Gefahr durch Rechtsextremismus ernst nehmen.
Wolfgang Schroeder sprach zudem eine Warnung aus: Die Widerstandsfähigkeit der Zivilgesellschaft sei begrenzt und wenig eigene Kraft vorhanden, um Strategien gegen Rechts aufzubauen. Vor allem die starke Abhängigkeit gegenüber dem Staat und dessen Ressourcen sei problematisch. Demgegenüber plädierte Schroeder für eine selbstbewusste Zivilgesellschaft, die sich ihrer Rolle als innovative Kraft und Problemlöserin bewusst ist.
Der Politikwissenschaftler sieht eine zunehmende Homogenität in der Zivilgesellschaft kritisch. Zwar gebe es ein Wachstum an unterschiedlichen Organisationen, diese seien allerdings in ihrem Zugriff homogener – die Gefahr, dass sich Echokammer wie im Internet bilden, bestehe.
Es brauche einen „Heterogenitätsschub“, der verschiedenste Lebensrealitäten in den Blick nimmt und eine stärkere Verbindung von verschiedenen Diskursen bewirke, so Wolfgang Schroeder. Nicht nur der eigene Standpunkt müsse in den Blick genommen werden, sondern auch das „große Ganze“ unserer Gesellschaft. Insgesamt fokussierten wir uns zu stark auf die gesellschaftlichen Ränder, die Zivilgesellschaft müsse jedoch der Mitte klar machen, worum es geht und breite Bündnisse bilden. Denn wenn die gesellschaftliche Zuversicht steige, so Prof. Schroeder, könndn auch die Wähler:innen von rechtsextremen und -populistischen Parteien von Demokratie und dessen Institutionen besser überzeugt werden. Es brauche eine „Identität des eigenen Beitrags zum Gutwerden der Gesellschaft“, zu der auch Freiwilligenagenturen beitragen könnten.
„Mittendrin statt nur dabei“: Verleihung des bagfa-Engagement- und Demokratiepreises 2024
Was wäre eine Jahrestagung ohne Preisverleihung? Die Demonstrationen für Demokratie hinterließen einen tiefen Eindruck, denn sie haben gezeigt, wie wichtig es ist, zusammen zu halten und Haltung zu zeigen. Aus diesem Grund widmete sich die bagfa im Jubiläumsjahr diesem Themenbereich und suchte mit dem bagfa-Engagement- und Demokratiepreis 2024 Projekte und Ideen von Freiwilligenagenturen und Landesarbeitsgemeinschaften zur Förderung von Demokratie und Engagement.
Erstmals wurden der bagfa-Innovationspreis und der „Wünsch Dir was“-Preis zusammengelegt und in zwei Kategorien vergeben, „Bestehende Projekte und Aktivitäten“ und „Ideen und Wünsche“ – entsprechend der bisherigen Ausrichtung der Preise. Die insgesamt zwölf Gewinner:innen der Haupt- und Anerkennungspreise wurden bei einer feierlichen Preisverleihung am 3. Juni bekanntgegeben. Überreicht wurden die Preise von Michael Ruhl, Staatssekretär im Hessischen Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt, Weinbau, Forsten, Jagd und Heimat, der Juryvorsitzenden Prof. Dr. Claudia Neu von der Universität Göttingen sowie von Dr. Jürgen Rembold, Mitstifter des Preises.
Ausgezeichnet wurden etwa Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote im Bereich wehrhafte Demokratie und Zivilgesellschaft, die Idee für einen Fotowettbewerb unter dem Motto „Mein Blick auf Demokratie“ oder Aktionen rund um die anstehenden Wahlen. Der Preisverleihung ging eine spannende Abstimmung voraus – die diesjährige Jury stellte pro Kategorie eine Shortlist aus sechs Bewerbungen zusammen, die unter den bagfa-Mitgliedern und Teilnehmenden der Jahrestagung zur Abstimmung stand. Drei Einsendungen je Kategorie erhielten einen Hauptpreis in Höhe von 2.500 €, die weiteren drei Bewerbungen der Shortlists wurden mit einem Anerkennungspreis gewürdigt, dotiert mit 500 € dotiert.
Alle Gewinner:innen und weitere Eindrücke der Verleihung des bagfa-Engagement- und Demokratiepreises sind hier zu finden.
Engagement nicht als Anker, sondern als Netz in unruhigen Zeiten: Bischöfin Dr. Beate Hofmann zum Start des zweiten Tagungstages
Wie finden junge Menschen ins Engagement? Für Bischöfin Dr. Beate Hofmann eine der Fragen, die evangelische Gemeinden genauso beschäftigen wie Freiwilligenagenturen. In ihrem Vortrag nahm sie auch ihre eigene Engagementgeschichte zu Hilfe, um Antworten zu geben. In ihrer Jugend brauchte es unter anderem einen organisatorischen Kontext, der einen Einsatz verpflichtend vorsah: In ihrem Fall konkret ein Konfirmationspraktikum im Altenheim. Wer sich einmal so eingebracht habe, werde es später wieder tun, leitete die Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck aus ihren Erfahrungen ab.
Vor ihrer Amtsübernahme in Kassel war sie über zehn Jahre als Professorin für Gemeindepädagogik in Nürnberg tätig. Hier habe sie viel mit dem dortigen Zentrum für aktive Bürger zusammengearbeitet – und dabei gelernt, Engagement von den Engagierten her zu denken. Daraus habe sie sich das ganze Potenzial des Engagements erschlossen. Aus dieser Zeit muss auch das Bild stammen, das Beate Hofmann gebraucht, um die Rolle von Freiwilligenagenturen zu beschreiben: Als Gärtner:innen im Feld des Engagements, als Bodenbereiter:innen, Fruchtbringer:innen und Unkrautjäter:innen.
Ausführlich teilte die Bischöfin auch eigene Sorgen, die ihr manche Entwicklungen in den Engagementbereichen bereiten: Infolge der Corona-Pandemie sei manches zum Erliegen gekommen. Die psychischen Probleme, die ein Fünftel der Studierenden aufwiesen, hätten nicht nur gravierende Folgen für die Betroffenen, sondern hemmten auch ihr Engagement. Und bei vielen Menschen, die sich für geflohene Ukrainer:innen einsetzten, musste sie massive Überforderung beobachten. Was aber bedeutet es für das Engagement, wenn sich eine Gesellschaft als zunehmend erschöpft erweist? Sicher ist Beate Hofmann, dass damit ein langfristiger Auftrag für Engagementförderer verbunden ist: Freiwillige bräuchten gute Begleitung und ausreichende Pausen.
Allen Problemen zum Trotz könnte für sie ein goldenes Zeitalter des Engagements beginnen – schließlich gingen Millionen von Babyboomern demnächst in den Ruhestand. Aufgaben gäbe es genug, man denke an die zunehmend fragilen Sorge-Strukturen. Deshalb regte die Bischöfin an, mit dem Rentenbescheid sollten Hinweise auf die nächstgelegene Freiwilligenagentur verschickt werden.
Abschließend schlug Beate Hofmann noch einen neuen Titel für ihren Vortrag vor. Engagement sei nicht unbedingt ein Anker, sondern ein Netz – und Freiwilligenagenturen seien die Netzwerkknüpfenden.
25 Jahre Engagementpolitik zwischen alten Debatten und neuen Herausforderungen: Eine Diskussion mit Prof. Dr. Gisela Jakob und Prof. Dr. Andrea Walter
In dem Jahr, in dem die bagfa gegründet wurde, gab es auch eine historische bundespolitische Maßnahme in Sachen Engagement: 1999 beschloss der Deutsche Bundestag die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ einzurichten. Grund genug, die Entwicklung der letzten 25 Jahre zu betrachten. Dazu eingeladen hatte Moderator Tobias Kemnitzer von der bagfa e.V. zwei Professor:innen, die sich unterschiedlich lang und anhand verschiedener Perspektiven mit Engagement beschäftigen.
Für Prof. Dr. Gisela Jakob, vor ihrer Professur an der Hochschule Darmstadt u.a. an der Enquete-Kommission als wissenschaftliche Mitarbeiterin beteiligt, hatte die Arbeit der Kommission eine nachhaltige Wirkung. Festgeschrieben wurde hier allem voran eine Definition von bürgerschaftlichem Engagement, an der sich die Engagement-Szene zukünftig gleichermaßen orientieren wie mit ihr arbeiten sollte. Diese Definition brauche für Prof. Dr. Andrea Walter als jüngere Engagementforscherin auch einen Erweiterungsraum, denn diese gelte inzwischen auch als normativ aufgeladen, anspruchsvoll und wenig inklusiv. Nicht zuletzt ließe sich das breite Feld des informellen Engagements damit nicht erfassen. Insgesamt wurde die Crux mit den Begriffen deutlich. Ehrenamt sei ein sehr geläufiger und insofern praktikabler Begriff, fand Andrea Walter – jedoch auch ein sachlich fragwürdiger, erinnerte Gisela Jakob. Auch weil das darin steckende „Ehr-“ Verständnis an Traditionen anknüpft, mit denen sich viele Akteure eigentlich nicht mehr identifizieren.
Ein weiterer “Klassiker” engagementpolitischer Debatten sei der Pflichtdienst, der vor allem von politischen Akteur:innen immer wieder neu auf die Agenda gesetzt werde. Hier mahnte vor allem Gisela Jakob an, sich nicht auf diesen neuen Pflichtendiskurs einzulassen. Statt einer Pflichtethik solle man sich stärker auf das Recht der Bürger:innen auf freiwilliges Engagement konzentrieren. Auch Anreize wie zusätzliche Rentenpunkte als Anerkennung für freiwillige Tätigkeit sieht die Wissenschaftlerin kritisch, etwa weil dies für gemeinnützige Organisationen zusätzliche bürokratische Pflichten bedeute.
Als neue relevante Rahmenbedingung erkennt Andrea Walter den Befund, dass die Zahl der Freiwilligen zwar stabil bleibt, aber Menschen insgesamt weniger Zeit für Engagement aufbringen. Wer dieses erhalten möchte, muss also neue Wege suchen. Ein Ansatzpunkt wäre, informelles Engagement als Einstieg in ein formelles zu verstehen, was die praktische Frage aufwirft, wie sich Übergänge gestalten ließen.
Und wie geht es mit der Förderung des Engagements durch die Politik weiter? Hier erinnerte Prof. Walter daran, dass die Selbstdarstellung des Feldes oft suggeriere: “Es läuft doch alles”. Insgesamt brauche es mehr Selbstbewusstsein und das Signal an die Politik, die Engagementförder:innen mehr einzubeziehen. Gleichzeitig werde es wichtiger, von staatlicher Förderung unabhängiger zu werden – beispielsweise indem Unternehmenskooperationen gestärkt werden.
Was Freiwilligenagenturen als Infrastruktur einer lebendigen Bürgergesellschaft anbelangt, hat Gisela Jakob keine Zweifel. So wie sich die Agenturen in den letzten Jahrzehnten professionalisiert hätten, seien sie eine feste Größe der Zivilgesellschaft geworden.
Eher fragt sie sich, welche Rollen sie etwa in Krisen übernehmen könnten. Hilfreich sei hier unter anderem eine „Aufpasser:innenfunktion“ gegenüber staatlichem Handeln un Haltung zu zeigen, etwa als Fürsprecher:innen für das bürgerschaftliche Engagement. Dafür bräuchte es natürlich ausreichende Ressourcen. Andrea Walter verwies auf die Kompetenz der Freiwilligenagenturen als Seismographen, sozusagen das Ohr nah an gesellschaftlichen Entwicklungen, die auch das Engagement beträfen, zu haben. Insgesamt seien Freiwilligenagenturen für sie ein Player, der in der Engagementszene, der nicht mehr wegzudenken sei.
Freiwilligenagenturen gestalten Gesellschaft und Demokratie: Kasseler Positionen der bagfa-Jahrestagung
25 Jahre bagfa sind nicht das einzige Jubiläum, dass es auf der Jahrestagung zu feiern gab. Auch die „Augsburger Erklärung“ feiert in diesem Jahr ihren zehnten Geburtstag – 2014 wurde das Papier mit den Teilnehmenden der damaligen Jahrestagung in Augsburg erarbeitet und verabschiedet. In der Zwischenzeit ist viel passiert: Der Sommer der Migration, die Corona-Pandemie, der Krieg gegen die Ukraine, eine zunehmende Digitalisierung und sozial-ökologische Herausforderungen beeinflussten und prägten das Engagement im letzten Jahrzehnt.
Höchste Zeit also, die Freiwilligenagenturen in einer sich wandelnden Gesellschaft und Demokratie zu verorten. Aufbauend auf der Augsburger Erklärung schlug die bagfa acht Positionen und eine Präamble vor, welche die Teilnehmenden im Vorfeld der Jahrestagung erhielten. So wurde ein partizipativer Prozess angestoßen, in dem die Kolleg:innen die Positionen mit ihren Erfahrungen und Wissen bereicherten und überarbeiteten haben.
Die Positionen zeigen ein Selbstverständnis der Freiwilligenagenturen und stellen Verbindungen zu den derzeitigen gesellschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklungen her.
Sie verdeutlichen die Wirkung von Freiwilligenagenturen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und möchten Impulse zur Weiterentwicklung des freiwilligen Engagements geben. Hierbei spielen die Förderung von Engagement, Demokratie, Diversität und Inklusion, Nachhaltigkeit, Digitalisierung und stabile Rahmenbedingungen eine prägende Rolle. Das Positionspapier unterstützt die Arbeit der Freiwilligenagenturen vor Ort und bietet präzise Positionen, die etwa in der Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation mit Entscheidungsträger:innen – ergänzend zu den kürzlich erschienen Strukturempfehlungen – von Nutzen sind.
Zum Start dieses Prozesses wurde auch gleich eine wegweisende Entscheidung getroffen: Statt den Begriff Thesen zu nutzen, wie es die bagfa ursprünglich vorschlug, entschieden die Teilnehmenden sich in großer Mehrheit für den Begriff „Positionen“. In einem offenen Format diskutierten die Kolleg:innen anschließend die Positionen in Kleingruppen. Hier wurden Kommentare, Stimmungsbilder und Formulierungsvorschläge mit Unterstützung einer Moderation eingeholt. Ein Redaktionsteam, bestehend aus Dr. Elisabeth-Maria Bauer, Geschäftsführung der ‚Fala‘ Freiwilligenagentur in Landshut, Jannik Sohn von der bagfa und Eva-Maria Antz als bagfa-Wegbegleiterin und Moderatorin des Prozesses, überarbeitete anschließend die Positionen und die Präambel.
Unter dem Titel „Freiwilligenagenturen gestalten Gesellschaft und Demokratie“ verabschiedeten die Teilnehmenden der Jahrestagung am Abschlusstag im Kasseler Hallenbad Ost das Positionspapier ohne Gegenstimmen – hierbei wurden die überarbeiteten Thesen vorgestellt, letzte Bedenken und Überlegungen geteilt und anschließend abgestimmt.
Die Kasseler Positionen der 25. Bagfa-Jahrestagung und weitere Informationen sind hier zu finden.
Große Themen, große Wirkungen: Überblick zu sieben Intensivworkshops
Die acht Kasseler Positionen zeigen: Gesellschaftliche und politische Entwicklungen und Transformationen wirken sich auf das freiwillige Engagement und die Arbeit von Freiwilligenagenturen aus. Um von der Rolle als Reagierende zu Gestalter:innen des Wandels zu werden, boten sieben Intensivworkshops und Trainings eine Einführung in drängende Themen unserer Zeit, darunter Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, Inklusion und Diversität. In den sieben Workshops wurde jede Menge Wissen vermittelt – so konnten die Kolleg:innen Anregungen für die eigene Arbeit sammeln und ihren Horizont erweitern.
Dem Wandel begegnen: Sieben Kurzworkshops zum Handeln in Freiwilligenagenturen
Wie mit den aktuellen gesellschaftlichen Dynamiken in der eigenen Arbeit umgehen? Welche Instrumente und Tools braucht es hierfür? In einem zweiten Durchgang mit sieben Kurzworkshops wurde konkret das Handeln in Freiwilligenagenturen in den Blick genommen. In den 60 Minuten wurde knackiges Wissen vermittelt und intensiv an verschiedenen Themen, etwa zu Arbeitsstrukturen oder Beratungssituationen, gearbeitet.
Zum Jubiläum ins Hallenbad: Galaabend „40 Jahre für Engagement begeistern“
Ein sicherlich prägendes Thema, das sich durch die komplette Jahrestagung zog: Das 25. Jubiläum der bagfa. Doch nicht nur die Bundesarbeitsgemeinschaft feierte in Kassel Geburtstag, sondern auch die LAGFA Hessen freute sich über ihr 15-jährige Bestehen. Zusammen ergibt das „40 Jahre für Engagement begeistern“. Grund genug also, in einer außergewöhnlichen Kasseler Location einen besonderen Abend zu verbringen. In einer stillgelegten Badeanstalt, dem Hallenbad Ost, blickte das Team des traditionsreichen Kulturabends bei einer Gala auf 25 Jahre bagfa und 15 Jahre LAGFA Hessen zurück. Die Gala war gespickt mit schönen Erinnerungen und Highlights, aber auch mit humorvollen Einwürfen über Kassel und die Welt der Freiwilligenagenturen. Danach ging es zum obligatorischen „Abtanzen“.
Stadt der Kunst, Stadt der Transformation: Eine Führung durch Kassel
Auch dieser Programmpunkt gehört mittlerweile fest zur bagfa-Jahrestagung: Die traditionelle Stadtführung. Zum Start des letzten Tagungstages entdeckten die Teilnehmenden gemeinsam mit Stadtführer:innen Kassel und verschiedene documenta-Exponate, die den öffentlichen Raum der Stadt prägen.
Kunst, Kassel und die Documenta: Im Gespräch mit Dr. Harald Kimpel
Die Nachkriegsgeschichte Kassels ist eng mit der documenta verknüpft – das wurde in den Ausführungen von Dr. Harald Kimpel deutlich. Im Gespräch mit Dr. Jochen Gollbach, bagfa-Vorstand und tätig bei der Stadt Kassel, beleuchtete Kimpel die Geschichte der Kunstausstellung und deren Wechselwirkung mit der Stadt.
Der Kunstwissenschaftler ging auf die Ursprungsgeschichte der documenta ein. Diese ist auf die Initiative des Künstlers Arnold Bode zurückzuführen. Bode wollte im zerstörten Kassel einen Ort für zeitgenössische Kunst schaffen und damit an Vorkriegstradtionen des Werkbunds und des Bauhauses anknüpfen. Ziel war es, so Dr. Kimpel, Westdeutschland wieder in die Riege der europäischen Kulturnationen einzubinden. Zur ersten documenta 1955 sei noch völlig unklar gewesen, welche Spuren die Kunstausstellung in der Stadt hinterlassen würde.
Kimpel verdeutlichte im Gespräch, dass sich die documenta ab 1977 deutlich stärker im Stadtbild zeigte, etwa mit dem vertikalen Erdkilometer auf dem Kasseler Friedrichsplatz, der zur documenta 7 errichtet wurde. Ein weiteres Beispiel sind die berühmten 7000 Eichen, die Joseph Beuys 1982 im gesamten Stadtgebiet pflanzen ließ.
Auch auf den Antisemitismus-Skandal der letzten documenta 15 ging der Kunsthistoriker ein. Deutlich wurden hier laut Harald Kimpel auch strukturelle Probleme der Kunstaustellung: Fehlende Verantwortungsübernahme und institutionelle Eigendynamiken würden der documenta schaden. In den vielen Diskussionen zeige sich aber auch die Kraft von Engagement und Kunst: Dies sei ein dialektischer Vorgang: Die Welt wirke auf die Kunst und die Kunst wirke auf die Welt, führte Harald Kimpel im Gespräch aus.
10 große und kleine Einsichten zur 25. bagfa-Jahrestagung
Nach drei Tagen in der documenta-Stadt Kassel blicken wir auf ereignisreiche und eindrückliche Tage zurück. Im leidenschaftlichen Austausch und mit großer Dialogbereitschaft wurden spezifische Themen von Freiwilligenagenturen, gesellschaftliche Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen diskutiert. Expert:innen setzten hierbei Impulse und die Teilnehmenden setzten Positionen, die auch für die eigene Arbeit vor Ort relevant sind.
Am Ende bleiben 10 kleine und große Beobachtungen von der 25. bagfa-Jahrestagung hängen:
- Der Sommer bedeutet nicht nur Hitze: Trotz einiger Regenschauer konnten wir ein tolles Grillfest am und im Hallenbad Ost feiern.
- Ein reichhaltiges Programm sorgte für eine kurzweilige Jahrestagung: Impulse, gemeinsames Arbeiten und viel Austausch sorgten für Abwechselung.
- Engagement ist ein wichtiges Netz für unsere Gesellschaft und die Freiwilligenagenturen sind prägende Netzwerkknüpfer:innen – auch in unruhigen Zeiten.
- Raus aus den Blasen: Viele Kolleg:innen beschäftigt, wie wir mehr Menschen erreichen und stärker in den Dialog treten können – auch mit einer klaren Haltung.
- Die Jahrestagungsteilnehmenden schufen ein aktualisiertes Selbstverständnis, das sich in den „Kasseler Positionen“ widerspiegelt und die Freiwilligenagenturen als gestaltende Kraft in unserer Gesellschaft verorten.
- Engagement und Freiwilligenagenturen stärken unsere Demokratie – das zeigen die verschiedenen Gewinner:innen des bagfa-Engagement- und Demokratiepreises.
- Aktuelle Themen, wie Künstliche Intelligenz oder Schutz im Engagement stoßen auf großes Interesse.
- Kunst verändert die Welt, die Gesellschaft und das Engagement: Das zeigt sich nicht zuletzt anhand der Spuren, welche die documenta in Kassel hinterlässt.
- Gemeinsam feiert es sich am schönsten: Ein toller Galaabend war eine schöne Wertschätzung für Geburtstagskinder bagfa und LAGFA Hessen.
- Aus dem Herzen der Republik: In Kassel und dem gesamten Land Hessen zeigt sich eine vitale Engagementlandschaft.
Wir freuen uns bereits jetzt auf ein nächstes Mal, mit vielen Kolleg:innen, Gästen, Spaß, Neugierde sowie Lust am gemeinsamen Lernen und Diskutieren. Melden Sie sich bei Fragen zur Jahrestagung gerne unter bagfa@bagfa.de.